In der Bibel sucht man das Wort "Demokratie" vergeblich. Und doch haben wichtige Grundlagen der Demokratie – wie etwa die Würde des Menschen oder die Teilung der Macht – ihre Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition.

So wenig dieses Buch eine Auskunft darüber geben oder festschreiben will, wie und was Gott genau ist, ebenso wenig will es eine Staatsform als Gott gegeben anpreisen. Gott bleibt Geheimnis – unerforschlich und doch erfahrbar in allen Dimensionen des Menschseins.

Demokratie in der Bibel

Die Bibel gibt allerdings Zeugnis davon, wie Menschen die Anrede Gottes erfahren, verstehen, deuten, in Erzählungen und Weisungen niedergeschrieben haben.

Was ist der Mensch? Wie geht Zusammenleben? Was sind Kategorien von Gerechtigkeit?

Diese Grundfragen des Lebens beantworten die biblischen Schriften unterschiedlich, doch aus einer Grundbeziehung heraus: Nur im Gegenüber zum großen göttlichen Du kann der Mensch das erkennen und beschreiben, was er ist, wie er leben und mit anderen zusammenleben will.

Ursprünge der Demokratie

Die Wurzeln westlicher Demokratien liegen im Athen der Antike: Das Prinzip der Volkssouveränität – in der Gesetzgebung etwa – geschieht in der Vollversammlung mit gleichem Rederecht für alle; ein Rat, der nach dem Prinzip der Repräsentation aus der Vollversammlung hervorgeht, bearbeitet die Tagesgeschäfte. Statt Wahlen wird hier das Losverfahren angewendet und natürlich sind ausschließlich Männer im Besitz der vollen Bürgerrechte, die ihnen die Teilhabe auf allen politischen Entscheidungsebenen erlaubt.

Wenn wir von biblischen Grundlagen demokratischen Handelns reden, liegen die weniger auf der institutionellen Ebene. Man kann sie zunächst in den Grundlagen des biblischen Menschenbilds finden.

Die Würde des Menschen

"Die Würde des Menschen ist unantastbar", Art. 1 des Grundgesetzes, lässt sich zurückführen auf den biblischen Grundsatz der Ebenbildlichkeit des Menschen im 1. Kapitel der Genesis: Der Mensch ist tsäläm – Abbild, Ebenbild Gottes, wenig geringer als Gott; mit Würde und Glanz gekrönt, wie es in Psalm 8 heißt. Dass das für alle Menschen gleichermaßen gilt, frei und gleicher Wertigkeit, steht nicht infrage.

Eine Staatsform, die dem Rechnung trägt, in der ein Mensch sich seiner Würde und Ebenbildlichkeit gemäß entfalten kann, die seine Kreativität unterstützt und ihn nicht als Feind behandelt, muss demokratischen Prinzipien folgen. Der Mensch ist durch Gesetze und Institutionen geschützt, keiner staatlichen Willkür ausgeliefert und keiner Ideologie, der sich alles unterzuordnen hat.

"In Demokratien haben wir es mit Menschen, nicht mit Feinden zu tun", hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber formuliert. Und man kann fortsetzen: In Demokratien haben wir es mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu tun, berufen zu freier Mitverantwortung in der Gestaltung des Gemeinwesens, frei nach Jeremia 29,7: "Suchet der Stadt Bestes und betet für alle, die darin wohnen." Der Schutz von Minderheiten oder die Religionsfreiheit sind ebenfalls abzuleiten aus dem biblischen Menschenbild der Gottebenbildlichkeit.

Demokratisierung von Macht

Eine zweite biblische Spur sind die Anfänge geteilter Macht und Verantwortung, einer Demokratisierung von Macht. Hier ist die Erzählung in 4. Mose 11 ein schillerndes Beispiel. Sie ist Teil der großen Erzählung der Wüstenwanderung des Volks Israel aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit.

Nicht nur die Gebote als Weisung für das Zusammenleben der Freien, für den Lebensschutz auch der Nutztiere, der Fremden sind Wegmarken auf diesem Weg. Auch die Frage der Macht wird in diesen Erzählungen erstmalig geklärt. Mose, der geistbegabte Mittler zwischen Gott und seinem Volk, wird die Alleinverantwortung zu schwer, denn das Volk "murrt" immer wieder. "Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer." (4. Mose 11,14)

Der König wird dem Gesetz ebenso untertan sein wie sein Volk

Die Lösung wird darin bestehen, 70 Älteste aus dem Volk, Amtleute, vor der Stiftshütte – dem rituellen Zentrum – zu versammeln. "So will ich herniederkommen … und dort von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volks tragen und du nicht allein tragen musst." (4. Mose 11, 17) Repräsentanzen zeichnen sich hier ab, schon in der Existenz von Ältesten. Und in der Verteilung der Geistkraft liegen Ansätze einer Demokratisierung des Geistes und einer geteilten Verantwortung für ein Volk in vorstaatlicher Zeit.

Das Korrektiv der Königsmacht

Ein weiteres Motiv ist das Korrektiv der Königsmacht, das mit dem Amt des Propheten auftaucht, sobald Israel mit König Saul nach großem Ringen das Königtum errichtet (um etwa 1000 v. Chr.). Der König wird dem Gesetz ebenso untertan sein wie sein Volk. Die Aufgabe der Propheten ist, die Machthaber des Volks, namentlich den König, daran zu erinnern.

Nathan und David (2. Samuel 12-13), Elia und König Ahab (1. Könige 18), Jeremia und Zedekia (Jeremia 38) sind die prominentesten Prophet-König-Paare. Die Könige werden kritisiert für die Verfolgung eigener Interessen, für die sie sogar töten, für ihre politischen Machtspiele, für Unterdrückung und Aushungerung des Volks. Das Prophetenamt ist keine staatliche Institution der Gewaltenteilung, sondern eher vergleichbar mit der kritischen Gewalt im Staat, der in Demokratien die freie Presse nachgeht. Investigativer Journalismus und Sozialkritik gegenüber staatlicher Macht haben hier ihren Ursprung.

Wie zentral die Begrenzung der Macht und die kritische Begleitung von Regierungshandeln ist, wird in diesen Prophetenschriften des Alten Testaments sehr deutlich. Zugleich entstehen klare Kriterien für Machtausübung: Die Arbeitsaufgabe der Mächtigen ist der Shalom, eine gerechte Gesellschaft, in der eine Partizipation aller am gesellschaftlichen Geschehen garantiert ist: die Sprachlosen, Ohnmächtigen sollen eine Stimme haben und die Armen, Witwen, Waisen der Gerechtigkeit teilhaftig werden.(Psalm 82, 3-4)

Staatliche Willkür

Ganz anders geartet ist die Auseinandersetzung mit staatlicher Obrigkeit in der Zeit des Apostels Paulus im 1. Jh. n. Chr. Die christlichen Gemeinden sind Teil des großen Römischen Reichs, die Christen in Rom sind damals eine bescheidene Gruppe. Sie wären lebensmüde, sich gegen den Kaiser zu stellen und etwa keine Steuern zu zahlen. Sie sind geduldet. Im 13. Kapitel des Römerbriefs schreibt Paulus: "Jeder Mensch soll sich den staatlichen Behörden unterordnen. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben ist. Auch die jetzt bestehenden sind von Gott eingesetzt. Das heißt: Wer sich gegen die staatliche Ordnung auflehnt, lehnt sich damit gegen die Anordnung Gottes auf. Und wer das tut, wird zu Recht bestraft werden."

Spätestens aber mit Beginn der systematischen Christenverfolgung im 2. und 3. Jahrhundert wendet sich das Blatt. Die staatlichen Behörden von damals werden zur lebensgefährlichen Bedrohung. Im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, mutiert die staatliche Macht zu einer Bestie. Dieses Buch wird aus heutiger Perspektive ein Dokument der Auseinandersetzung mit staatlicher Willkür, mit Machtmissbrauch, mit Religionsfreiheit in Zeiten der staatlich legitimierten Unterdrückung und Verfolgung einer Minderheit.

In der Geschichte des Christentums spielen diese beiden Texte eine große Rolle. "Eine Erkenntnis kann nicht getrennt werden von der Existenz, in der sie gewonnen ist", hat Dietrich Bonhoeffer als wichtige Maxime formuliert. Entreißt man Römer 13 dem geschichtlichen Kontext und macht göttliche Legitimierung staatlicher Obrigkeit zu einem ewig gültigen Prinzip, ist staatlicher Willkür Tor und Tür geöffnet. Und religiöse Institutionen wie etwa die Kirche können keine Distanz wahren, geschweige denn eine kritische Instanz für Machtkritik sein.

Der preußische Staat, das wilhelminische Königreich im 19. Jahrhundert, hat in der Allianz von Thron und Altar seine größte Schwäche demonstriert. Und der totalitäre verbrecherische Staat unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, der sich in den 1930erJahren etabliert, erfährt von obrigkeitshörigen Christen wenig Widerstand.

"Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apostelgeschichte 5, 29) setzt der Autor der Apostelgeschichte dagegen. Der Staat hat keine letzte, absolute Autorität über Menschen. Anders als totalitäre Staatsformen lebt die Demokratie von dieser Selbstbeschränkung: durch freie Wahlen, durch Wählbarkeit politischer Repräsentanten auf Zeit, durch Gewaltenteilung, durch freie Gerichtsbarkeit.

Friedensvisionen

Dann ist die Bibel das Buch der Friedenvisionen. Die Völkerwallfahrt zum Zion (Jesaja 2) zeichnet ein monumentales Bild der Völker, die sich auf dem Berg versammeln: "Gott wird Recht schaffen zwischen den Nationen / und viele Völker zurechtweisen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden/ und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, / und sie erlernen nicht mehr den Krieg."

Die Botschaft des Friedensengels an Weihnachten heißt "Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens" (Lukas 2). Diese Verheißungen des großen Shalom sind Inspiration für friedliches Handeln in einem freien Land – oder gerade dort, wo Menschen sich sehnen nach Freiheit und Demokratie.

Kommentare

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Florian Meier am Sa, 15.02.2025 - 16:37 Link

Wohl eher mehr verschlungen, wenn man bedenkt, dass über Jahrhunderte danach Kaiser von Gottes Gnaden und Päpste die Anführer der Christenheit waren. Es stimmt zwar sicher, dass ein Teil europäischer Ethik christlich fundamentiert ist, aber ansonsten halte ich das für eine arg hingebogene Interpretation. Luther forderte noch die Ermordung aufständischer Bauern und der Vatikan ist wohl das undemokratischte Gebilde der westlichen Welt. Der bürgerliche Konservatismus war noch im 20. Jh. eine ziemlich demokratiefeindliche Truppe und ist teilweise bis heute mit ihr am fremdeln. Es gab immer auch andere Stimmen, die aber keineswegs stark oder zahlreich waren.