Beatrice Kulawig sammelt Insekten, Tausende, Abertausende, allerdings tote. Die Biologin und Umweltwissenschaftlerin schraubt alle 14 Tage eine mit Aluminiumfolie umwickelte Plastikflasche von einem Netz. Das etwa 1,60 Meter hohe, an den Seiten offene zeltartige Netz fängt in Bodennähe fliegende Insekten. Die Tierchen streben in den Maschen nach oben, gelangen durch ein Loch in die Flasche und fallen in den konservierenden Alkohol.

Kulawig ist Projektmanagerin der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung und arbeitet im Rhein-Main-Observatorium im hessischen Gelnhausen. Dort wird nicht nur der Fang der eigenen Falle untersucht, sondern zentral der von rund 80 gleichen Fallen von den Alpen bis zur Küste. Das Malaisefallen-Projekt, benannt nach dem schwedischen Insektenforscher René Malaise (1892-1978), soll erstmals die Entwicklung einer breiten Menge von Insekten und ihrer Arten bundesweit untersuchen.

Anlass für das Insekten-Projekt war ein Schock

Wissenschaftler veröffentlichten 2017 eine Studie, nach der die Insektenmenge in Teilen Deutschlands in 27 Jahren um drei Viertel abgenommen hat. Die Forschenden hatten für die "Krefelder Studie" zwischen 1987 und 2014 an wechselnden Stellen in 63 Naturschutzgebieten, vor allem in Nordrhein-Westfalen, Fallen aufgestellt und die Biomasse gemessen.

Noch dramatischer fielen die Ergebnisse einer anderen Langzeitstudie aus: Wissenschaftler des Senckenberg-Forschungsinstituts in Gelnhausen und der Universität München untersuchten 42 Jahre lang die Zahl und Arten der Wasserinsekten eines osthessischen Mittelgebirgsbachs. 2020 gaben sie bekannt, dass deren Zahl zwischen 1969 und 2010 um 82 Prozent gesunken war.

Außerdem erfassten die Forscher die klimatischen Bedingungen: In dem Zeitraum stieg die durchschnittliche Wassertemperatur um 1,8 Grad. Darüber hinaus herrschten seit 1990 trockene Jahre vor, und die Hochwässer wurden unberechenbarer. Dies habe die Artenvielfalt schrumpfen lassen.

Klimawandel scheint Ursache für Rückgang der Artenvielfalt

Die Autoren der Studie folgerten, dass der Klimawandel die wahrscheinlichste Ursache dieser starken Abnahme ist. Um das Phänomen Insektensterben flächendeckend zu untersuchen, startete das deutsche Netzwerk für ökologische Langzeitforschung (LTER-D), eine Plattform von Forschungseinrichtungen, Universitäten und Nationalparks, 2019 das Malaisefallen-Projekt. Über ganz Deutschland verteilt werden die Fallen 14-tägig geleert, die Biomasse gemessen und die Arten bestimmt. Die ersten Ergebnisse sind ermutigend.

Im Labor in Gelnhausen nimmt Dominik Petersen den Fang entgegen. Der Abiturient im Freiwilligen Ökologischen Jahr, gekleidet in einen weißen Kittel, Gummihandschuhe und Schutzbrille, leert die Insektenflasche über einem Sieb aus und pflückt mit der Pinzette die letzten winzigen Tierchen vom Flaschenrand. Die Waage zeigt 51,6 Gramm Biomasse an. Je nach Standort und Jahreszeit fingen die Fallen in 14 Tagen zwei bis 200 Gramm an Insekten, erklärt er. Ausgeleert in einer Schale zeigen sich zahllose Fliegen unterschiedlicher Größe, Wespen, wenige Schmetterlinge und eine Spinne.

Daraufhin füllt Jasmeed Singh, indische Biologiestudentin im Praxissemester, den Fang in eine mit Äthanol gefüllte Dose und schaltet den Fraktionierer ein. Die Dose rotiert, kleinere Insekten fallen durch die vier Millimeter großen Löcher in den unteren Teil, größere bleiben darüber hängen. Die Teilung nach Größe erleichtere die DNA-Analyse, erklärt Kulawig. Die getrennten Insektenmengen werden an die Universität Duisburg-Essen geschickt. Dort werden die Arten bestimmt.

In zwei Jahren knapp 4.000 Insektenproben gesammelt

Dafür werden die Insekten zunächst in ein Pulver zermahlen, erklärt der Essener Biologe Dominik Buchner. Dann wird das Erbgut bestimmt. Nach der Methode des sogenannten Metabarcoding wird ein Abschnitt der DNA isoliert und mit der internationalen Datenbank "Barcode of Life" online abgeglichen. Wenn ein Erbgut dort noch nicht erfasst ist, ist eine Aussage über die Art nicht möglich.

Die in zwei Jahren gesammelten knapp 4.000 Proben an Insekten könnten einen Lieferwagen füllen, berichtet Buchner. Das Projekt habe seit dem Start schon 13.000 Insektenarten in Deutschland festgestellt. Allerdings seien weit mehr DNA-Sequenzen, nämlich 78.000 erfasst worden. Zwar könnten mehrere Sequenzen zu einer Art gehören, aber vermutlich seien auch Arten gefangen worden, die noch gar nicht bekannt sind. Da die Funde pulverisiert sind, sei jedoch keine weitere Aussage möglich. Bisher seien rund 33.000 Insektenarten in Deutschland beschrieben. Weltweit seien aber viele Arten noch nicht erfasst.

Die Ausbeute des Projekts in den ersten zwei Jahren sei erstaunlich hoch, sagt der Abteilungsleiter der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung, Peter Haase. Allein das Rhein-Main-Observatorium habe in seinen sechs Fallen im Main-Kinzig-Kreis rund 7.000 Arten erfasst, davon 4.000, die noch nicht in der eigenen Datenbank aufgenommen waren. Die Biomasse der Insekten sei zwischen 2019 und 2021 gleichgeblieben. Immerhin in diesem kurzen Zeitraum habe es in der Summe keinen weiteren Schwund gegeben. Ob dies aber tatsächlich ein Zeichen für eine Trendwende sein könnte, sagt Haase, das müssten die Untersuchungen in den kommenden Jahren zeigen.