Seit über zwei Wochen gibt es Proteste im Iran. Hat die Intensität inzwischen nachgelassen?

Omid Rezaee: Im Vergleich zu den ersten Tagen ist es schwächer geworden. Das war auch zu erwarten: Das Ausmaß der Unterdrückung ist viel zu groß und die Anwesenheit der Sicherheitskräfte in den Städten, in denen es Proteste gegeben hat, ist massiv. Es gibt Berichte von tausenden Verhaftungen. Mindestens 200 Menschen wurden nicht auf der Straße, während einer Demonstration verhaftet, sondern gezielt zu Hause abgeholt. Gleichzeitig hat sich der Protest auch verändert: An vielen Orten kommen einige Menschen zusammen, fangen an Parolen zu rufen und verschwinden sehr schnell wieder.

"Es wird weiter Zusammenstöße geben, es wird Verhaftungen geben, es wird Proteste geben."

Spricht die Abschwächung der Proteste dafür, dass sich das Regime letztlich durchsetzen wird?

Das ist sehr schwierig einzuschätzen. Wenn es wie bei den vorherigen Protesten gewesen wäre, würde ich sagen, es wird langsam ruhiger werden, bis der Staat das ganze Land wieder unter Kontrolle hat. Aber es scheint dieses Mal anders zu sein. Zum Beispiel war in Teheran zwei Nächte lang nicht viel los. Man hatte den Eindruck, dass die Sicherheitsbehörden die Kontrolle über die Stadt wiedergewonnen hätten. Aber gestern Abend gab es dann wieder Proteste. Es wird in anderen Formen weitergehen. Vielleicht nicht mehr als große Demonstrationen, aber es wird weiter Zusammenstöße geben, es wird Verhaftungen geben, es wird Proteste geben.

Welche politischen Gruppen sind an den Protesten beteiligt?

Das ist auf jeden Fall sehr divers. Die Proteste repräsentieren am Ende des Tages die iranische Gesellschaft, die vielfältig ist, die aus verschiedenen Kulturen, verschiedenen ethnischen, religiösen, sprachlichen Gruppen und auch politischen Weltansichten besteht. Es gibt etliche Gruppen, die auf die Straße kommen und ihre Rechte fordern, zum Beispiel das Recht auf Bildung und Ausbildung in ihrer Muttersprache. Und es gibt auch viele wirtschaftliche Forderungen.

 

Omid Rezaee
Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist, Jahrgang 1989. Er lebt seit Anfang 2015 in Deutschland. Im Iran war er Autor und Chefredakteur eines Studentenmagazins, das von den Sicherheitsbehörden verboten wurde.

"Es gibt eine Forderung, die fast alle Protestierenden teilen: dass sie die Islamische Republik nicht mehr wollen."

Und worauf können sich all diese verschiedenen Gruppen einigen?

Es gibt eine Forderung, die fast alle Protestierenden teilen: dass sie die Islamische Republik nicht mehr wollen. Das ist total klar. Wenn es um die Selbstbestimmung der Frauen geht, gibt es dagegen verschiedene Ansichten. Es hat zwar mit den Frauenrechten angefangen. Die Proteste waren sehr feministisch anfangs. Aber mittlerweile sind auch die Konservativen – also nicht die religiösen Konservativen, sondern politisch konservative Gruppen – mit dabei. Die wollen zwar den Sturz der Islamischen Republik, stehen aber nicht unbedingt für alle progressiven feministischen Werte.

"Eine Reform dieses Regimes steht nicht zur Diskussion."

Also wollen alle Protestierenden eine andere Republik?

Das kann man auch nicht sagen, denn es sind auch Monarchisten dabei. Die wollen den Sohn des letzten Shahs wiedereinsetzen. Wie viele das wirklich sind, kann niemand sagen, es gibt ja keine freien Wahlen, nicht mal richtige Umfragen. Ob wir eine Republik wollen oder eine konstitutionelle Monarchie, das alles müsste man in einer freien Gesellschaft diskutieren, debattieren und entscheiden. Nur eins ist klar: Eine Reform dieses Regimes steht nicht zur Diskussion.

Also gibt es gar keine Unterstützung mehr für die Regierung?

Doch, natürlich unterstützt ein Teil der Gesellschaft das Regime. Sonst wäre das Regime schon längst weg. Ein kleiner Teil der Gesellschaft profitiert von der aktuellen Situation. Von der Korruption etwa. Es gibt auch Islamisten, die gegen den Säkularismus stehen. Die unterstützen das Regime auf jeden Fall. Wie viele das wirklich sind und welchen Einfluss sie hätten, wenn nicht der ganze Staat für sie Partei ergreifen würde, das kann man nicht einschätzen.

"Hjab, und zwar als Uniform, nicht als freie Wahl, die jede Frau für sich treffen kann oder nicht, wird das Regime nicht aufgeben."

Wäre es denkbar, dass die Islamische Republik versucht, ihre Macht zu erhalten, indem sie ein paar Zugeständnisse macht?

Ich kann mir vorstellen, dass das Regime einige Sachen aufgibt, wie wir es vor einigen Jahren in Sachen Atomprogramm gesehen haben. Da hat die Regierung viele ambitionierte Ziele bezüglich des Atomprogramms aufgegeben, um mit dem Westen verhandeln zu können. Aber bezüglich des Hijabzwangs kann ich es mir nicht vorstellen. Hjab, und zwar als Uniform, nicht als freie Wahl, die jede Frau für sich treffen kann oder nicht, wird das Regime nicht aufgeben. Das ist ein Symbol der Identität der Islamischen Republik. Damit hat es angefangen, und damit wird es weitergehen. Und damit wird es vielleicht nicht mehr weitergehen, weil es genau deswegen gestürzt wird.

"Vielleicht wird die Sittenpolizei aufgelöst oder zumindest nicht mehr präsent sein auf den Straßen."

Welche Zugeständnisse wären denkbar?

Ich glaube nicht, dass es mit der Sittenpolizei, wie wir sie kennen, weitergeht. Das wird nicht mehr funktionieren. Vielleicht wird die Sittenpolizei aufgelöst oder zumindest nicht mehr präsent sein auf den Straßen. Offiziell wird die Strafe für das Nichttragen des Kopftuchs bleiben, hin und wieder werden auch Frauen bestraft werden. Aber in dem Ausmaß, dass es zu Konflikten zwischen Frauen und dem Regime führt – das wird nicht mehr gehen.

Wie nehmen Sie die Diskussionen um das Kopftuch in Deutschland wahr?

Es ist ja klar, wie die AfD oder andere rechte Extremist*innen damit umgehen. Aber auch ein Teil der Linksliberalen und der Linken wollen sich mit diesem Konflikt nicht auseinandersetzen. Sie haben das Kopftuch als Zeichen der Vielfalt wahrgenommen, und daraus eine Identität gemacht. Es ist für sie ein Zeichen dafür, dass sie die nicht-weißen, nicht-westlichen Frauen akzeptieren. Und wenn man jetzt sieht, es gibt anscheinend Frauen im Nahen Osten, die das nicht wollen - das will ein Teil der progressiven Aktivist*innen und der Zivilgesellschaft des Westens, auch hier in Deutschland, nicht einsehen. 

"Die Islamische Republik ist kein zuverlässiger Partner für den Westen."

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat im Bundestag über die Proteste gesprochen. Waren Sie einverstanden mit dem, was sie gesagt hat?

Ich würde mir mehr Engagement von westlichen Politiker*innen wünschen. Die Rede von von Baerbock war am Ende des Tages nur eine Rede, so schön sie auch war. Die Europäische Union und auch Deutschland brauchen eine andere Iranpolitik. Man darf nicht alles akzeptieren, solange der Iran das Atomprogramm aufgibt. Das funktioniert nicht. Man darf nicht den gleichen Fehler mit dem Iran machen, den man mit Russland gemacht hat. Die Islamische Republik ist kein zuverlässiger Partner für den Westen.

"Der Westen sollte mit der Zivilgesellschaft Irans sprechen."

Was sollte konkret geschehen?

Der Westen sollte mit der Zivilgesellschaft Irans sprechen. Es reicht nicht, nur mit einer Regierung, mit einem Staat zu sprechen, der ganz offensichtlich einen großen Teil der Bevölkerung nicht vertritt. Man muss einen Weg finden, mit der Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen und sie zu fragen, wie man von Deutschland aus der iranischen Zivilgesellschaft helfen kann.

Was können die Menschen in Deutschland tun, um die Menschen im Iran zu unterstützen?

Zum einen kann jeder auf der individuellen Ebene die Snowflake-Erweiterung in seinem Browser hinzufügen. Das kostet nichts und ist sehr unkompliziert. Was aber auch möglichst viele machen sollten: Druck auf die deutsche Politik auszuüben. Wir wissen, dass die Politiker*innen in einer Demokratie auf die Forderungen der Bevölkerung reagieren, sonst bleiben sie nicht in der Macht. Und das muss man nutzen, nicht nur für sich selbst, nicht nur, wenn irgendwas teuer wird, sondern auch für die anderen.
Viele von den Iraner*innen, die auf die Straße gehen, tun das gar nicht direkt für sich. Zum Beispiel, weil sie ihren Hijab gar nicht absetzen wollen, sondern ihn freiwillig tragen. Aber sie glauben an die Freiheit, das selbst zu entscheiden und gehen dafür demonstrieren. Im Sinne dieser Solidarität kann man auch in Deutschland Politiker*innen und die Parteien unter Druck setzen, damit sie handeln.