Das Migrationsabkommen der EU mit Tunesien ist nach Ansicht des Politikforschers David Kipp Ausdruck für einen "klaren Rechtsruck auf europäischer Ebene". Es zeige, dass es Italien unter Regierungschefin Giorgia Meloni mit seiner strikten Anti-Migrations-Politik gelungen sei, seinen Kurs zu verstetigen und die Unterstützung der Europäischen Union dafür zu gewinnen, sagte der Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Zwar werde in der am Wochenende geschlossenen Vereinbarung der EU mit Tunesien betont, dass sie auf der Achtung der Menschenrechte basiere, sagte Kipp.

"Doch das ist natürlich extra vage gehalten."

Das Ziel Europas sei in der Vereinbarung klar ersichtlich: Ankünfte aus Nordafrika nach Europa zu reduzieren, erklärt der Migrationsexperte.

Menschenrechtler: Tunesien setzt Flüchtlinge in der Wüste aus

Tunesien ist ein wichtiges Transitland für Migranten, die die Überfahrt über das Mittelmeer wagen. In Italien wurde in diesem Jahr bereits die Ankunft von rund 75.000 Flüchtlingen und Migranten registriert, nach weniger als der Hälfte im Vorjahreszeitraum. Mehr als 44.000 von ihnen stachen von Tunesien aus in See. Der Vereinbarung mit der EU zufolge soll Tunesien nun stärker gegen Schlepper und Überfahrten vorgehen, was Europa mit rund 100 Millionen Euro unterstützen will. In seinem Umgang mit Flüchtlingen und Migranten aus Ländern Afrikas südlich der Sahara steht Tunesien allerdings zunehmend in der Kritik. Menschenrechtler berichten etwa vom Aussetzen Geflüchteter in der Wüste.

Insgesamt stellt die EU im Rahmen der Vereinbarung Finanzhilfen im Umfang von etwa 900 Millionen Euro in Aussicht, die die wirtschaftliche Entwicklung stützen sollen. Wie wichtig der EU das Abkommen sei, habe sich in dem "großen politischen Kapital" gezeigt, das sie zuletzt in Tunesien investiert habe, sagte Kipp mit Blick auf mehrere Besuche der EU-Spitze in den vergangenen Monaten. Das berge aber auch die Gefahr, dass Migrantinnen und Migranten zum Spielball werden könnten, mahnt er:

"Auch in Tunesien sehe ich das Risiko, dass Geflüchtete instrumentalisiert werden können, um europäische Gelder zu erhalten."

Migrationsforscher: Abschaffung des Asylrechts löst kein Problem

Aus Sicht des Migrationsforschers Gerald Knaus würde eine Abschaffung des Individualrechts auf Asyl die aktuellen Probleme bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Europa nicht lösen. "Das echte Problem ist, dass wir es nicht schaffen derzeit, die Migrationsabkommen zu schließen, die wir brauchen", sagte Knaus am Mittwoch im "Morgenmagazin" der ARD. Nur mit diesen Abkommen sei es möglich, jene schnell zurückzuschicken, die keinen Schutz brauchen, und Staaten außerhalb Europas einen Anreiz zur Kooperation zu geben.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), hatte vorgeschlagen, das individuelle Recht auf Asyl durch eine "Institutsgarantie" zu ersetzen, in deren Rahmen die EU jährlich ein Kontingent von 300.000 bis 400.000 Schutzbedürftigen direkt aus dem Ausland aufnehmen könnte. Er argumentiert mit einem Konstruktionsfehler in der aktuellen Rechtslage, da die Voraussetzung für Asyl ein Antrag auf europäischem Boden sei. Damit gelte ein "Recht des Stärkeren", wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank sei, sei chancenlos.

Tödliche Außengrenze der EU

Knaus argumentierte, Freis Vorschlag würde an der aktuellen Situation nichts verbessern. Es fehlten Vereinbarungen, um Ausreisepflichtige aus der Europäischen Union zurückzubringen, sagte der Vorsitzende der Berliner Denkfabrik "European Stability Initiative". Auch müsse es möglich sein, Menschen in sichere Drittstaaten zurückzuschicken, um zum Beispiel Mittelmeerflüchtlingen eine Rückkehr nach Libyen zu ersparen.

Als zentrales Problem nannte Knaus "die tödliche Außengrenze der EU". Dort werde Recht gebrochen, in Libyen werde versucht, "mit grauenhaften Partnern, die die Menschen quälen", Migration unmoralisch zu stoppen.

Vertreter von SPD, Grünen, Linken sowie Verbänden hatten Freis Vorstoß als realitätsfremd und geschichtsvergessen zurückgewiesen. Das Individualrecht auf Asyl ist ist unter anderem in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Grundgesetz festgeschrieben. Es entstand unter dem Eindruck der Weigerung vieler Staaten während des Holocausts, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. 

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden