Die Proteste im Iran nach dem Tod einer jungen Frau sind nach Meinung von Nahost-Experte Daniel Gerlach eine Gefahr für die Islamische Republik. Dass so viele Menschen aus verschiedenen Milieus und Ethnien gemeinsam protestierten, sei ein "einmaliger Vorgang" und unterscheide die aktuelle von früheren Protestbewegungen, sagte Gerlach dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Proteste erfassen weite Teile der Gesellschaft
Im Iran gebe es eine politisch bewusste und aktive Gesellschaft, sagte er. Bei den Protesten spielten Studierende ebenso eine Rolle wie traditionelle Gesellschaftsstrukturen, etwa der Basar. Die Händler in Teheran und anderen Städten seien eigentlich eine konservative Gruppe, hätten den Basar aber zwischenzeitlich geschlossen:
"Das ist sicher ein Alarmsignal für das Regime."
Außergewöhnlich sei auch der Streik der Ölarbeiter am Persischen Golf. "Das trifft die iranische Wirtschaft an ihrer Achillesferse." In Regionen mit starken ethnischen Minderheiten, etwa in kurdischen Gebieten oder im Süd-Osten des Landes, hätten auch Familien und sunnitische Religionsgelehrte großen Einfluss. Die getötete junge Frau, Mahsa Amini, stamme aus einer nicht unbedeutenden kurdisch-sunnitischen Familie.
Zudem gebe es Religionsgelehrte aus dem schiitischen Establishment, die sich mit den Forderungen der Protestbewegung solidarisieren, so Gerlach. Sie wollten Reformen im System, während hingegen viele der Demonstranten überzeugt seien, dass die Islamische Republik in ihrer derzeitigen Verfassung nicht mehr fortbestehen könne.
Politisierung von Religion führt auch bei religiösen Menschen zu Ablehnung
Die permanente Politisierung der Religion und ihr totalitärer Anspruch hätten dazu geführt, dass selbst Menschen, denen religiöse Werte und Spiritualität wichtig seien, religiöse Vorschriften nicht mehr akzeptierten. In den iranischen Städten sehe man derzeit kaum noch schiitische Geistliche.
"Nicht, weil es sie nicht mehr gibt, sondern weil sie nicht mehr mit Turban und Ornat auf die Straße gehen - aus Angst vor dem Zorn der eigenen Bevölkerung."
Gerlach ist Mitgründer der Candid Foundation, einer Denkfabrik zur Förderung interkultureller Beziehungen mit den Gesellschaften in Nahost und Nordafrika. Der 45-Jährige ist außerdem Herausgeber des Orient-Fachmagazins "zenith".