Eigentlich wusste Aaron bereits als Kind, was er später arbeiten wollte:

"Man wird danach ja schon im Kindergarten gefragt, und für mich stand immer ein bisschen fest, dass ich Tierarzt werden will", sagt der 20-Jährige.

Trotzdem schwankte er am Ende der Schulzeit doch noch mal. Er legte ein "Gap Year" ein, eine einjährige Auszeit, und machte Praktika auf einem Pferdehof, in einer Kleintierpraxis und im Krankenhaus. Dann war endgültig klar: Tiermedizin.

Das "Gap Year"

Ein Drittel der Abiturientinnen und Abiturienten plant nach Schulende ein solches "Gap Year". Der Direktor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Bernd Fitzenberger, sieht das Lückenjahr als Ausdruck dafür, wie unsicher sich die jungen Leute bei der Berufswahl fühlen.

"Für den einzelnen kann es eine wertvolle Erfahrung sein, aber es verzögert auch den Einstieg in den Arbeitsmarkt", gibt er zu bedenken.

Das "Sich-nicht-Festlegen-Können" betrifft bei weitem nicht nur Abiturienten, sondern auch Real- und Hauptschüler. Das durchschnittliche Alter der jungen Menschen beim Einstieg in die duale Ausbildung - also Betrieb und Berufsschule - liege mittlerweile bei 20 Jahren, sagt Fitzenberger. Viele machten erstmal einen weiteren schulischen Abschluss, oft falle der Schritt "raus aus dem gewohnten Umfeld" schwer.

Überforderung vom Informationsangebot rund um die Berufswahl

Eine Befragung unter Jugendlichen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit vom Informationsangebot rund um die Berufswahl überfordert ist.

"Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen", schreibt die Autorin Ulrike Bartholomäus in ihrem Buch "Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?".

Wobei auch klar ist: Lange Reisen, "Work and Travel" in Australien, "Au-pair"-Einsatz in Kanada, mit Freiwilligendiensten nach Südafrika, in Spanien die Sprachkenntnisse aufbessern, ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten - eine solche Phase des Ausprobierens kann sich nicht jeder finanziell leisten.

Das kleine Team der Evangelischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Paare im hessischen Herborn trifft sich immer dienstags zu seinen Besprechungen. Auf dem Tisch stehen verschiedene Teesorten; die Atmosphäre ist entspannt. Viele Jugendliche suchen in der Einrichtung Hilfe. Ihnen stünden heutzutage tausend Wahlmöglichkeiten offen, sagt der Pfarrer Jörg Moxter:

"Die Freiheit wird als Segen verkauft, sie kann aber auch überfordern."

Schon die Schulsituation habe sich in den vergangenen Jahren zugespitzt: Es gebe dort eine große Vielfalt aus Kursen und AGs, wenig Zeit für den Einzelnen, häufige Lehrerwechsel. Konflikte aus der Schule würden in die nächste Lebensphase weitergetragen, beobachtet die Sozialpädagogin Rebecca Mehl.

Bequemlichkeit der Jugendlichen

Gleichzeitig erleben die Berater eine Überbehütung durch die Eltern - und Bequemlichkeit bei den Jugendlichen. Oft blieben sie auch während der Ausbildung und des Studiums zu Hause wohnen, und zwar nicht nur aus finanziellen Gründen.

"Es ist aber wichtig, mit Anfang 20 das Leben selbst zu bewältigen", sagt die Psychologin Katja Reintges.

Das Team versucht, gemeinsam mit den jungen Leuten zu erarbeiten, wo ihre Ressourcen liegen und wie sie sich stärken lassen. Als praktische Übung diene zum Beispiel ein Stuhlwechsel - man nimmt eine andere Perspektive ein. Oder sie arbeiten mit "inneren Anteilen": Was steckt noch in mir und will entdeckt werden?

"Zu sich selbst zu kommen, ist die erste Etappe", sagt Moxter. Danach könne man überlegen: "Was willst du machen?"

Die erste Berufswahl ist keine Lebensentscheidung

"Als allererstes", sagt der Youtuber "Lehrerschmidt" seinen 1,6 Millionen Followern und Followerinnen in einem Video zur Berufswahl, "entspannen wir uns mal ein bisschen."

Es sei nicht mehr so, dass man sich für einen Beruf, eine Ausbildung oder ein Studium entscheide und das dann für den Rest seines Lebens mache. Interessen veränderten sich im Lauf der Jahre. Hinter dem Account steckt Kai Schmidt, Oberschulrektor im niedersächsischen Uelsen.

Arbeitsmarktforscher Fitzenberger bestätigt ihn: Viele glaubten, mit der Berufswahl eine Lebensentscheidung zu treffen, die sich nicht mehr rückgängig machen lasse. "Von dieser Mentalität müssten wir wegkommen." Er wünscht sich eine "höhere Akzeptanz" für einen Neuanfang nach einem Misserfolg.

Erst einmal raus aus der Tatenlosigkeit sei jedenfalls ein gutes Rezept, sagt Autorin Bartholomäus. "Entscheidend ist, dass Bewegung in das Leben des Heranwachsenden kommt." Die meisten fänden ihren Weg: "Die Phase des Chillens, des Nicht-Wissens-was-kommt und des unmotivierten Stocherns in Berufswegen geht vorbei, sobald der Funke überspringt und sie etwas für sich gefunden haben, das passt."

"Lehrerschmidt" rät zu vielen, vielen Praktika: "Schaue dich um, rede mit Leuten aus dem Bereich, der dich interessiert."

Tiermedizinstudent Aaron hat dafür das "Gap Year" zwischen Schule und Uni genutzt, hat Kontakte geknüpft, Dinge ausprobiert. Er ist glücklich mit seiner Wahl. Spannend werde es nochmal zum Ende der Studienzeit, "weil sich da ein super breites Berufsfeld auftut": "Da bin ich mir noch nicht so sicher."

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden