"Dies ist nicht der Moment, um Polarisierung oder Konflikte zu verstärken"

Wie entscheidend ist die anstehende Europawahl aus kirchlicher Sicht?

Katrin Hatzinger: Es ist sicherlich nicht nur die kirchliche Einschätzung, dass diese Wahl wegweisend ist und letztlich eine Richtungswahl darstellt. Angesichts der aktuellen globalen Lage hat die Wahl sicherlich nochmals an Bedeutung gewonnen Bedauerlicherweise hat sich die Gesamtsituation in den letzten fünf Jahren nicht verbessert, sondern es sind zusätzliche Krisenherde, kriegerische Auseinandersetzungen, wirtschaftliche Herausforderungen und gesellschaftliche Spaltungen hinzugekommen. Dies haben wir zuletzt auch in verschiedenen europäischen Ländern deutlich gesehen, etwa in der Slowakei, wo der sicherlich umstrittene, aber frei und demokratisch gewählte Ministerpräsident Fico bei einem Attentat schwer verletzt wurde.

Daher bedarf es jetzt eines Europäischen Parlaments als Gesetzgeber, das eine Politik der Mitte und der Vernunft betreiben kann, um diese Herausforderungen zum Wohle aller Europäerinnen und Europäer anzugehen. Dies ist nicht der Moment, um Polarisierung oder Konflikte zu verstärken, was zu befürchten wäre, sollte es zu einem Rechtsruck im Europäischen Parlament kommen. Insbesondere nationalistische und antieuropäische Kräfte, die teilweise auch Sympathien für Russland hegen, sind in diesen herausfordernden Zeiten ungeeignet, die EU in ruhigem Fahrwasser zu halten.

Für wie wahrscheinlich halten Sie denn einen Rechtsruck?

Wir verfolgen selbstverständlich stets die Projektionen und Umfrageergebnisse, und es ist in der Tat schwierig, genaue Vorhersagen zu treffen. Auch ich habe keine Kristallkugel. Man hofft natürlich, dass am Wahltag nicht der Frust über die eigene Regierung im Vordergrund steht, wie es oft bei Europawahlen der Fall ist, und dass die Wahl nicht zu einem Denkzettel für die nationalen Regierungsparteien wird. Es wäre wünschenswert, dass der europäische Gedanke im Vordergrund steht.

Absehbar ist jedoch, dass die Europäische Volkspartei, der auch die CDU angehört, voraussichtlich die stärkste Kraft bleiben wird, gefolgt von den Sozialdemokraten als zweitstärkster Fraktion. Allerdings reicht dies noch nicht aus, um eine Mehrheit im Europäischen Parlament zu bilden. Die entscheidende Frage wird sein, welche Gruppe die drittstärkste Kraft wird. Hier konkurrieren sowohl die liberale Fraktion als auch die europaskeptische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer sowie die rechtsextreme Fraktion Identität und Demokratie.

Zu Beginn des Jahres gab es Projektionen, dass diese rechten Fraktionen, insbesondere auch die Identität und Demokratie, die drittstärkste werden könnten. Dies hat sich jedoch mittlerweile etwas relativiert, sodass Prognosen derzeit schwierig sind. Was jedoch ebenfalls deutlich ist, ist, dass die Grünen, die in der letzten Legislaturperiode maßgeblich zur Förderung der grünen Agenda auf EU-Ebene beigetragen haben, voraussichtlich in vielen EU-Ländern an Stimmen verlieren werden.

Droht also eine weitere Zersplitterung des EU-Parlaments?

Es ist wichtig zu wissen, dass im Europäischen Parlament in Deutschland zumindest keine Sperrklausel bei der Wahl gilt. Das bedeutet, dass aus Deutschland viele kleine Parteien ins Europäische Parlament einziehen können. Diese ordnen sich oft den größeren Fraktionen zu, da die Abgeordneten sonst keine wirkliche Stimme hätten. Auch in vielen anderen Ländern gibt es keine Fünf-Prozent-Hürde, was zu einer enormen Vielfalt an Parteien führt. Diese Vielfalt macht es oft schwierig, innerhalb der Fraktionen Disziplin durchzusetzen.

Eine Frau, sie lächelt
Katrin Hatzinger leitet seit Mai 2008 die Brüsseler Vertretung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Sie studierte in Bielefeld Rechtswissenschaften mit Schwerpunkt Europa- und Völkerrecht und war während ihrer Hochschul- und Referendariatszeit als freie Hörfunkautorin beim WDR in Bielefeld und Köln tätig.

2003 kam sie als juristische Referentin zum Büro der EKD nach Brüssel.

Katrin Hatzinger ist Vorsitzende des Deutschlandradio-Hörfunkrats. Sie ist u.a. Mitglied des Fachbeirats Ethik der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), Mitglied der Kommission für Europafragen des Rates der EKD und Ständiger Gast in der Kammer für Migration und Integration des Rates der EKD.

"Die EU wirtschaftlich stabilisieren, einen menschenwürdigen Umgang mit Migranten und Flüchtlingen gewährleisten und verhindern, dass Hardliner das Ruder übernehmen"

Welche gesellschaftlichen Themen stehen in der kommenden Legislaturperiode aus Ihrer Sicht im Vordergrund?

Angesichts der bevorstehenden Herausforderungen ist es besonders wichtig, eine klare pro-europäische Linie zu verfolgen. Diese Linie sollte die EU wirtschaftlich stabilisieren, einen menschenwürdigen Umgang mit Migranten und Flüchtlingen gewährleisten und verhindern, dass Hardliner das Ruder übernehmen. Zudem ist es uns wichtig, dass das Thema der sozialen und ökologischen Transformation ernst genommen wird und man sich in Bezug darauf traut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Dies wird umso schwieriger, je fragmentierter das Europäische Parlament ist und je schwerer es wird, stabile Mehrheiten zu finden.

Wie steht es um die Sicherheits- und Verteidigungspolitik?

Diese wird ein zentrales Thema sein, da der Krieg Russlands gegen die Ukraine andauert und es innerhalb der EU mittlerweile unter den 27 Staaten Konsens ist, dass ein Bedarf an verteidigungspolitischen Absprachen besteht, ebenso wie an der Beschaffung von Verteidigungsgütern. Es fehlt jedoch noch an einer intensiven Debatte darüber, ob dieses dauerhafte Aufrüsten wirklich erfolgversprechend ist und welche Auswege aus dieser Aufrüstungsspirale möglich sind.

Die EU sieht sich traditionell als Friedensmacht und Softpower. In dieser komplexen Lage muss sie ihre wichtige diplomatische Rolle weiterhin ausfüllen. Dieses Thema ist in all seinen Facetten nicht unumstritten, insbesondere in Bezug darauf, inwieweit die EU hier tatsächlich eine Rolle spielen kann, da eigentlich die NATO das Verteidigungsbündnis ist. Diese Debatten werden in den nächsten fünf Jahren sicherlich intensiv geführt werden und die EU auch finanziell fordern.

Viele Wähler*innen scheinen die Bedeutung der Europawahl nicht groß genug einzuschätzen, nutzen sie eher als Möglichkeit zum Denkzettel. Oder täuscht diese Wahrnehmung?

Nein, dies fällt mir deutlich auf. Ich war kürzlich wieder in Deutschland, und wenn ich die Plakate sehe, bemerke ich, dass aufgrund der in einigen Regionen gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen am 9. Juni oft lokale Politiker im Vordergrund stehen. Bei den Europawahlen hingegen muss man schon sehr gut informiert sein, um die vermittelten Botschaften zu verstehen. Diese sind oft recht diskret, und ich finde, dies ist ein Dauerthema: In der Bundespolitik hat die Europawahl nicht den Stellenwert, den sie haben müsste.

Die Wahlkampagnen sind meist kurz, und die Botschaften konzentrieren sich häufig auf nationale Politiker, wie beispielsweise bei der SPD, die neben die Europa-Spitzenkandidatin Katharina Barley den Bundeskanzler plakatiert. Doch der Bundeskanzler spielt im Europäischen Parlament in Brüssel bzw. Straßburg zunächst keine Rolle. Es wäre wünschenswert, wenn man sich mehr auf die Gesichter der Europapolitik und die wichtigen europäischen Themen fokussieren würde. Die aktuelle Darstellung ist oft sehr oberflächlich, und ich glaube, das ist ein Grund, warum die Europawahl bei vielen Wählerinnen und Wählern nicht so durchdringt. Sie scheint in der nationalen Politik nicht den Stellenwert zu haben, den sie eigentlich verdient hätte.

Es gibt eine Handreichung der EKD zur Europawahl. Eine klare Wahlempfehlung ist darin nicht enthalten, wohl aber Hinweise darauf, worauf Wähler*innen bei der Wahl achten sollten, richtig?

Ich glaube, was wir in unserer Handreichung auszudrücken versucht haben, ist, dass man gewisse Parameter an die Parteien anlegen sollte. Es ist wichtig zu verstehen, wofür sie stehen. Die Programme sind veröffentlicht und zugänglich, sodass man sich eine fundierte Meinung bilden kann. In unserer Handreichung haben wir die Punkte dargelegt, die aus kirchlicher Sicht von Bedeutung sind.

Welche wären das?

Es geht darum, dass die Menschenwürde eine zentrale Rolle spielt, dass Verächtlichmachung politischer Gegner oder von Minderheiten und völkisches Gedankengut inakzeptabel sind. Ebenso ist es wichtig, ob die Parteien im Sinne des Gemeinwohls und des europäischen Gemeinwohls agieren oder ob sie sich auf ein rückwärtsgewandtes nationales Denken beschränken. Diese Aspekte haben wir in unserer Handreichung betont.

"Die Europäische Union hat keine Zuständigkeit, religiöse Fragen zu regeln"

Religiöse Themen spielen dabei keine Rolle?

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die Europäische Union keine Zuständigkeit hat, religiöse Fragen zu regeln. Dies begrüßen wir, diese Fragen gehören auf die mitgliedsstaatliche Ebene. Es gibt erhebliche Unterschiede in den staatlichen Religionsverfassungen der 27 Mitgliedstaaten, sodass es vermessen wäre, wenn Brüssel oder die EU beginnen würden, Regelungen in diesem Bereich zu treffen. Dies ist auch vertraglich festgelegt.

Daher stehen religionspolitische Themen in Brüssel nicht auf der Tagesordnung und können nur indirekt behandelt werden. Viele wissen jedoch nicht, dass seit dem Vertrag von Lissabon 2009, insbesondere im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Artikel 17, eine Vorschrift existiert, die die Kirchen unmittelbar als Dialogpartner der europäischen Institutionen anerkennt. Dieser Artikel sieht einen regelmäßigen, offenen und transparenten Dialog mit Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften vor.

Auf dieser Grundlage finden immer wieder hochrangige Treffen zu aktuellen Themen zwischen Kirchenvertretern, Religionsvertretern, Vertretern von Weltanschauungsgemeinschaften und Vertretern des Europäischen Parlaments sowie der Europäischen Kommission statt. Somit sind die Kirchen auf EU-Ebene als Dialogpartner fest etabliert.

Was wäre insgesamt Ihr Wunsch für den Wahlausgang?

Es ist wichtig, eine starke politische Mitte zu haben. Die Europäischen Volksparteien und die Sozialdemokraten gehören selbstverständlich dazu. Doch es muss auch Optionen jenseits der Europaskeptiker und der Fraktionen ganz rechts außen geben, sei es mit den Liberalen oder den Grünen-Fraktionen. Es ist entscheidend, dass Koalitionen immer wieder neu gebildet werden können, ohne von den Stimmen der extremen Rechten abhängig zu sein.

Dies hat nämlich auch einen Einfluss auf die Politik der gemäßigten Parteien, was wir derzeit in der Migrations- und Asylpolitik erleben. Obwohl die extreme Rechte im Europäischen Parlament glücklicherweise keine Mehrheit hat und dies auch in Zukunft nicht haben wird, ist ihr Einfluss in den Nationalstaaten spürbar. Jüngste Beispiele wie die Regierungsbildung in den Niederlanden, bei der die rechtsextreme Partei für die Freiheit eine Rolle spielt, zeigen, dass diese Parteien die politischen Kurse mitbestimmen können.

Es wäre wünschenswert, sich von diesen Einflüssen der extremen Rechten zu befreien und eine breite Koalition der Mitte zu bilden, die diese Kräfte in die Schranken weist.

Müssen wir uns angesichts multipler Krisen und Polarisierungen darauf einstellen, dass jede zukünftige Europawahl zur Schicksalswahl wird? Sehen Sie die EU gar am Abgrund?

Nein, soweit würde ich nicht gehen. Ich glaube, es gibt immer noch besonnene Kräfte. Allerdings spürt man generell die zunehmenden Spannungen, die sich überall verdichten. Die Europawahl ist nur der Ausdruck dessen, was wir auch auf nationalstaatlicher Ebene erleben. Man hat das Gefühl, dass gewisse Selbstverständlichkeiten im demokratischen Miteinander nicht mehr selbstverständlich sind und dass manches ins Rutschen gerät.

Wir alle würden uns wünschen, dass sich in den nächsten fünf Jahren die Weltlage und damit auch die politische Lage in der EU wieder beruhigen und man zu einer stabilen Politik übergehen kann, ohne ständig Krisen bewältigen zu müssen. Allerdings vermag ich nicht vorauszusehen, ob dies in fünf Jahren der Fall sein wird.

"Aus evangelischer Sicht ist es wichtig, für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einzutreten"

Sie sind in Brüssel sehr nah dran am Europäischen Parlament. Denken Sie, dass die Arbeit der Abgeordneten von den Wähler*innen ausreichend gewürdigt wird?

Das Europäische Parlament hat durch die Änderungen der europäischen Verträge immer mehr Kompetenzen erhalten und entscheidet bei vielen wichtigen Fragen mit. Dies haben wir auch in unserer Handreichung dargestellt. Das Parlament kann sich natürlich nicht immer gegen die Mitgliedstaaten durchsetzen, die ebenfalls als Gesetzgeber fungieren. Es ist jedoch interessant zu sehen, wie beispielsweise die Asylrechtsreform durch die Abgeordneten im zuständigen Ausschuss kritisch begleitet werden.

Ein genauerer Blick lohnt sich hier, da zahlreiche Parlamentarier, die an diesen Berichten beteiligt waren, sich oft vehement für Flüchtlingsrechte und eine menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik eingesetzt haben. Ebenso unterstützt die Mehrheit des Europäischen Parlaments ein umfassendes Lieferkettengesetz, das Umwelt- und Menschenrechte in den globalen Lieferketten achtet, sowie den sogenannten Green Deal, der sozialverträglich ausgestaltet ist.

Diese Aspekte gehen in den Debatten manchmal unter, da die Mitgliedstaaten und ihre Staats- und Regierungschefs oft im Fokus stehen. Die langwierige Arbeit in Ausschüssen und im Plenum des Parlaments ist komplexer und schafft es daher nicht so oft in die Medien und die Berichterstattung. Aus evangelischer Sicht ist es wichtig, für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einzutreten und dies als Teil unseres öffentlichen Auftrags wahrzunehmen. In vielen Bereichen ist das Europäische Parlament ein wichtiger Partner für diese gemeinsamen Anliegen.

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