Wie der ukrainische Lyriker Grigory Semenchuk schreibt, haben wir den Krieg lange nur so wahrgenommen: als "Popcorn knabbern im Kinosessel / und die Rettung von Private Ryan". Nun, da er an mehreren Fronten zur bitteren Realität geworden ist, scheint ebenfalls der Tod als Bedrohung näher an den Westen herangerückt zu sein. Überall vernimmt man Liveticker und Schreckensaufnahmen von zerstörten Kindergärten und Krankenhäusern.
Doch wie soll man umgehen mit dieser Allpräsenz der Auslöschung? Wie können wir sie in einer solchen Drastik und Dauer aushalten? Viele Antworten aus der Philosophie, die seit der Antike den Sinn im vermeintlichen Unsinn des Lebensendes sucht, helfen in der aktuellen Situation wenig weiter und muten fast schon zynisch an.
So etwa, wenn der Tod bei Martin Heidegger als "die eigenste Möglichkeit" eines ganzheitlichen Daseins begriffen wird – will vereinfacht heißen, dass seine Anwesenheit uns dazu stimuliert, das Leben richtig zu nutzen. Genauso wenig brauchbar erscheint derzeit, was beispielsweise Seneca uns rät:
"Du denke immerhin ständig an den Tod, dann brauchst Du ihn niemals fürchten".
Gelassenheit erweist sich in diesen Tagen als fatales Modell, zumal viele den Tod in ihrem neobiedermeierlichen Rückzug ins Private ohnehin schon ausblenden.
Es scheint beinah so, als würde proportional zu den Leichen die Aufmerksamkeit für die existenzielle Not dahinter sinken. Wie ein Schutzfilm schieben sich die Bildschirme vor die Wirklichkeit. Ganz dem Motto nach: Der Untergang findet ja nur in der Ferne statt.
Gesunder Umgang mit dem Tod schon lange verloren
Wer jedoch glaubt, wir hätten einen gesunden Umgang mit dem Tod erst durch die bewaffneten Konflikte in der Ukraine oder im Gaza-Streifen verloren, der irrt. Auch soziale Entwicklung spielen seit Beginn der Moderne eine wesentliche Rolle. Was mit der Urbanisierung im frühen 20. Jahrhundert begann, findet seinen Höhepunkt in der von Liberalisierung und Säkularisierung gekennzeichneten Gesellschaft. Klassische Familienstrukturen lösen sich auf und das Subjekt entdeckt – ganz im Sinne von Andreas Reckwitz‘ Rede von der Singularisierung – sein Heil in der absoluten Selbstverwirklichung.
Gruppenzugehörigkeiten und zwischenmenschliche Verbünde treten zugunsten eines Strebens nach dem Einzigartigen und Besonderen in den Hintergrund. Wo man, so die Folge daraus, schon mehr oder weniger frei lebt, wird der Tod auch nicht mehr gemeinsam durchlitten. Einst fand er im Herzen der Verwandtschaft und bestenfalls zu Hause statt. Heute, im Zeitalter einer epidemischen Einsamkeit, sterben viele allein, was wieder auch bedeutet, dass die meisten Mitglieder der individualisierten Gemeinschaft kaum noch in Kontakt mit ihm geraten.
Der Tod ist ungreifbar geworden. Man begegnet ihm vornehmlich in Games, in True Crime-Formaten oder eben den Nachrichten. Statt uns von letzteren abstumpfen zu lassen, sollten sie uns eher zur Reflexion anhalten. Dafür plädiert zumindest die Philosophie von Karl Jaspers. Für ihn stellt der Tod eine von verschiedenen Schwellen dar.
"Sie sind", so seine Definition, "wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern".
Erst sobald wir dieses Erfahrungsstadium durchlaufen haben, finden wir zu uns selbst. Jedoch versteht der Denker darunter kein statisches Identitätsmodell. So wie sich der Mensch stets verändert, so modifiziert sich mithin sein Blick auf das Sterben und Danach:
"In der Grenzsituation hört er [der Tod] nicht auf zu sein, aber er ist in seiner Gestalt wandelbar, ist so, wie ich jeweils als Existenz bin. Er ist nicht endgültig, was er ist, sondern aufgenommen in die Geschichtlichkeit meiner sich erscheinenden Existenz."
Wir können ihn also immer neu sehen, mal mit mehr, mal mit weniger Leichtigkeit, mal als erlösend, mal als zutiefst ungerecht und brachial. Entscheidend dürfte aber sein, dass wir in ein Verhältnis zu ihm eintreten. An Größe und Bedrohlichkeit gewinnt er eben dort, wo wir ihn verdrängen.
Vom Ich zum Wir
Je abstraktere Züge er also annimmt, desto mehr Angst flößt er uns ein. Dann sehen wir nicht mehr klar und geraten in eine egozentrische Gedankenspirale. Aus den Augen verlieren wir dabei unsere Mitmenschen und damit konkret viele im Krieg gefallenen. Es lohnt demnach, den Blick zu weiten, vom Ich auf das Wir zu schauen. Dann würden wir bemerken, dass wir alle verletzlichen Wesen sind und daher gegenseitiger Achtsamkeit bedürfen. Wir würden empfänglicher für das Leide der anderen. Trauer, die die bodenlose Angst in den Hintergrund zu drängen vermag, kann uns zusammenführen, kann jene leise Kommunikation sein, die Menschen über geografische Distanzen und Völkergrenzen hinweg verbindet. Sie kann ein Kitt sein, eine Brücke der Solidarität.
Überdies sollte der Tod aber auch ein Auftrag an uns sein, die wir uns noch in einer friedlichen Hemisphäre befinden. Seine Ausgestaltung beschreibt der 1988 in Baden-Baden verstorbene Autor Erich Fried prägnant in einem Anti-Kriegsgedicht:
"Es wird gemordet / und ich soll nicht daran denken / weil im Augenblick nicht ich / und nicht meine Leute ermordet werden […] Es wird ohnehin weitergemordet / auch wenn ich daran denke / und auch wenn ich davon spreche / aber es wird vielleicht / leichter gemordet / wenn ich nicht daran denke"
Wir können, so die Botschaft, weder den natürlichen noch den verbrecherisch verursachten Tod aufhalten. Aber indem wir jener gedenken, die er aus unserer Mitte riss, verhindern wir das gerade von Diktaturen angestrebte Vergessen. Dem drohenden Nichts begegnen wir dann mit einer moralischen Selbstverpflichtung. Sie weist dem oder der Verstorbenen über das Diesseits hinaus ihre Würde zu und sorgt zugleich dafür, dass wir uns wieder mit dem Sterben auseinandersetzen.
Gemeinsam leben, gemeinsam trauern
Bis die Kriege vor unserer Haustür ankamen, haben wir lange den Fortschritt zur Abschaffung des natürlichen Endes glorifiziert. Wir haben auf Genetik und Chirurgie gehofft, und investieren heute Unsummen und Energie in das Erlösungsversprechen durch Künstliche Intelligenz. Wir haben an die Versprechungen der Hollywood-Science-Fiction geglaubt, sogar gestorbene Schauspieler:innen (etwa für die Star Wars-Reihe) auf der Leinwand zum Leben erweckt.
Nicht zu vergessen sind unsere diversen medizinischen Bemühungen zur Lebensverlängerung, ohne überhaupt darüber gesprochen zu haben, wie die potenziell wachsende Quantität mit Qualität gefüllt werden könnte. Bei aller Tragik sollten wir die absurde Wiederholung der Geschichte in Form neuer gewaltsamer Konflikte als einen Weckruf ansehen. Weniger aus Furcht als vielmehr aus einem Todesbewusstsein heraus, das uns zur Verantwortung anhält.
Bruno Jonas sah letztere per se im Menschen angelegt. Ihm zufolge "ist ein Sollen ganz konkret im Sein des existierenden Menschen enthalten." Wir sind also aufeinander angewiesen, müssen uns beistehen, eben weil wir seit Geburt auf das Ende zugehen. Gemeinsam leben, gemeinsam trauern – dieser Gleichklang vermittelt uns zumindest die Aussicht, dass wir uns im Angesicht des Todes nicht allein fühlen müssen.
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