Auf den ersten Blick mag es irritieren, wenn ein Bundeswehrangehöriger die Entscheidung fällt – Krieg? Nein danke. Jemand, der bei der Bundeswehr als Soldat*in arbeitet, muss doch wissen, worauf er oder sie sich einlässt und dass man mit Krieg, Töten und Sterben konfrontiert wird. Wo sonst, wenn nicht in diesem Beruf?

Es ist aber nicht so, dass Soldat*innen, wenn sie einmal bei der Bundeswehr unterschrieben haben, nicht mehr rauskämen. Menschen können Dinge erleben, die sie in Gewissenskonflikte bringen und sie ihre Arbeit moralisch anders bewerten. Umso wichtiger ist es, dass es die Kriegsdienstverweigerung gibt. Sie ist ein Menschenrecht. In vielen Staaten allerdings wird es nicht umgesetzt, sagt der evangelische Berater für Kriegsdienstverweigerung Wolfgang Burggraf.

"Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden."

Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz

Kriegsdienstverweigerung - ein Grundrecht

In Deutschland ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch im Grundgesetz verankert. "Wer seine Gewissensentscheidung plausibel darlegen kann, ist nach Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt", erklärt Burggraf.

Bei der im Gesetz festgeschriebenen Kriegsdienstverweigerung handelt es sich um eine prinzipielle Verweigerung des Einsatzes einer Waffe. Bei der situativen oder kontextuellen Verweigerung hingegen, wenn also jemand den Waffeneinsatz in einem bestimmten Krieg oder Einsatz ablehnt, ist er nicht vom Grundgesetz geschützt.

Wolfgang Burggraf ist Geschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) in Bonn. Kernaufgabe dieser Beratungsstelle ist es, eine Gewissensentscheidung im Hinblick auf eine Verweigerung zu begleiten. Zurzeit wird Burggraf, nach eigenen Angaben, pro Woche von einer Person aus der Bundeswehr und an jedem Arbeitstag von einer Person außerhalb der Bundeswehr kontaktiert.

Anstieg der Verweigerungsanträge

Für 2022 hat das Bundesverteidigungsministerium Zahlen veröffentlicht, die einen deutlichen Anstieg der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung verzeichneten. 1123 Anträge (SoldatInnen: 235, ReservistInnen 271, Ungediente: 617.) im Vergleich zu 209 Anträgen im Vorjahr. Auffällig ist jedoch, dass die Antragstellenden überwiegend gar nicht zur Bundeswehr gehören.

Für Burggraf sind hier Zahlen miteinander gemixt worden, die nicht miteinander vergleichbar sind. Er sagt, die Zahl der aktiven Soldaten, die verweigern, liege seit etwa zehn Jahren konstant bei 200 plus. Daran habe auch der Kriegsausbruch in der Ukraine nichts geändert. Aber die Zahlen geben einen Einblick in die gesamtgesellschaftliche Lage.

"Was zu beobachten ist, dass es viele besorgte Menschen gibt, die mit der Bundeswehr überhaupt nichts zu tun haben und auch nichts zu tun haben wollen."

Bemerkenswert ist, dass diese Menschen, auch wenn sie überhaupt nicht rechtsschutzbedürftig sind (das ist in Deutschland laut Burggraf nur, wer männlich und zwischen 18 und 60 Jahre alt und gemustert ist), sich die Mühe gemacht haben, einen Antrag zu schreiben, Zeit investiert und Dokumente zusammengestellt haben, um aktiv etwas gegen einen befürchteten Kriegseinsatz tun.

Ergebnisoffene Beratung

Auch wenn die Beratungsstelle der EAK auf das Thema Kriegsdienstverweigerung spezialisiert ist, betont Wolfgang Burggraf, die Beratung sei ergebnisoffen. Das heißt eine Beratung führe nicht automatisch zu einer Verweigerung.

"Wenn sich jemand in der Beratung entscheidet, ich habe zwar Angst vor Krieg, aber ich will dennoch den Kriegsdienst an der Waffe nicht verweigern, dann gehört das auch zu einem möglichen Ergebnis einer Beratung." 

Die Beratenden der EAK sind Friedensbeauftragte -  das können Theolog*innen und (Sozial-)pädagog*innen mit seelsorgerlicher Ausbildung sein – und sie werden einerseits von Mitteln der Landeskirche und andererseits aus Mitteln der evangelischen Kirche in Deutschland finanziert. Die EAK in Bonn ist heute tatsächlich die einzig übriggebliebene Beratungsstelle für Kriegsdienstverweigerung in Deutschland.

Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht gab es, laut Burggraf, sowohl kirchliche als auch nicht kirchliche Institutionen die Kriegsdienstverweigerungsberatung angeboten haben. Nachdem 2011 die Einberufung ausgesetzt wurde, sei das "Massengeschäft" erst mal weggefallen, so der Politikwissenschaftler und Theologe. Auch die Zentralstelle, die die Arbeit koordinierte, sei aufgelöst worden.

Porträt eines Mannes mit kurzen grauen Haaren. Er trägt eine rot, blaue Krawatte, hellblaues hemd und schwarzen Anzug. Er schaut neutral an der Kamera vorbei.
Wolfgang Burggraf - Geschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Kriegsdienst und Frieden (EAK)

Gedanken sortieren

Burggrafs Team arbeitet deutschlandweit und berät per Mail, Telefon oder auch persönlich. "In der Regel wenden sich Menschen zu uns, die erstmal viele unsortierte Gedanken haben," sagt der Geschäftsführer. In der Beratung gehe es darum diese Gedanken zu sortieren, herauszuschälen, was die Gewissensmotivation ist oder ob etwas anderes dahintersteckt.

Das könne von einer einzelnen Auskunft, bei der sich eine Person nicht mehr meldet bis hin zu Gewissensbildungsprozessen die sich über Jahre ziehen, reichen.

Auch wenn manche Personen nur vorgeschobene Gründe für einen Bundeswehraustritt hätten, resultierten die meisten Anträge aus einer Gewissensnot heraus, so Burggrafs Einschätzung. Teil der Beratung sei auch die Unterstützung bei der Formulierung der Gewissensbildung, die für den Antrag benötigt werde.

Wie stellt man einen Antrag?

Für einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung benötigt man ein Schreiben, in dem man sich auf Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes beruft. Zweitens ein vollständiger tabellarischer Lebenslauf und drittens eine persönliche Darlegung der eigenen Gewissensentscheidung, sagt der EAK-Geschäftsführer.

Diese Unterlagen schicke man dann an das zuständige Karrierecenter der Bundeswehr. Für aktive Soldatinnen und Soldaten gilt, dass der Verweigerungsantrag nicht auf dem Dienstweg erfolgt, so Burggraf. Im Karrierecenter werde geprüft, ob die beantragende Person gemustert, tauglich gemustert, ob sie männlich und zwischen 18 und 60 Jahre alt ist.

Sei das der Fall werde der Antrag weiter an das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) geschickt. Dort entscheide sich, ob der Antrag anerkannt oder abgelehnt wird. Gegen eine Ablehnung kann Widerspruch eingelegt werden. Wird dieser wiederum abgelehnt, landet der Antrag vor dem Verwaltungsgericht. Laut Burggraf sei das bei aktiven Soldatinnen und Soldaten die Regel. Das Prozedere könne zwei Jahre dauern, bis eine Entscheidung getroffen werde.

Herausfordernde Wartezeit

Diese Zeit kann für Antragstellende herausfordernd sein. Zwar sei man vom Waffendienst befreit, aber nach wie vor an der Dienststelle mit den Vorgesetzen und Kamerad*innen, so berichtet Burggraf. Da könne es auch mal zu mobbingartigen Situationen kommen.

Sogar in der eigenen Familie, die einst stolz war, dass ein Angehöriger Soldat*in geworden ist, könne der Rückhalt bröckeln, wenn derjenige verweigert. Deshalb komme der Militärseelsorge als menschliche, seelsorgerliche Begleitung eine wichtige Rolle zu, so Burggraf. Dazu später mehr.

Wenn eine Person mit Ausbildung bei der Bundeswehr einen Verweigerungsantrag gestellt habe, dann kommt auf sie auch eine Rechnung über die Ausbildungskosten dazu, so Burggraf. Meist werde in einem Zivilverfahren am Amtsgericht entschieden, auf welche Höhe sich die Rückzahlung der Ausbildung beläuft.

Personalproblem der Bundeswehr

In den sogenannten Mangelverwendungen der Bundeswehr - bei Ärztinnen und in IT Berufen, sei es sehr schwer eine Kriegsdienstverweigerung anerkannt zu bekommen, erzählt der EAK-Berater und kommt auf das Personalproblem der Bundeswehr zu sprechen. Es sei ihr nicht gelungen, den Personalstand zu halten. Bei vielen endeten Verträge, andere seien in den Ruhestand gegangen.

Kriegsdienstverweigerer machten seiner Ansicht nach nur einen verschwindend geringen Anteil aus; und die Fälle von aktiven Soldaten, die der Bundeswehr den Rücken kehren, seien hausgemacht, so Burggraf. Die Kampagnen, mit denen die Bundeswehr in den vergangenen Jahren neues Personal rekrutiert habe, bewertet er als unehrlich. Darin sei die Bundeswehr wie ein Abenteuerspielplatz dargestellt worden und habe den Ernst des Einsatzes verharmlost.

"Es war bis vor einigen Jahren so, dass man unbehelligt ganz normal an der Uni Medizin studiert, hier und da mal eine Übung in Semesterferien gemacht hat und dann am Ende des Medizinstudiums nach dem Staatsexamen kam die sogenannte PUMA - die post- universitäre militärische Ausbildung - und da hat die angehende Ärztin gemerkt, dass der Krankentransportfahrzeug bewaffnet ist, und dass sie im Ernstfall, nicht in erster Linie Ärztin, sondern Soldatin ist. Das hat dann oft zu Kriegsdienstverweigerung geführt, weil man einfach so mitschwimmen konnte, ohne während der Ausbildung so richtig zu merken, was das eigentlich für ein Beruf ist."

Mittlerweile habe sich die Situation verbessert, sagt der Theologe. Auch die Möglichkeiten aus der Bundeswehr auszusteigen seien in den letzten Jahren vielfältiger geworden.

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