Im Zentrum des Reformationsgeschehens und der 95 Thesen Luthers stand bekanntlich die Frage der Buße. Und damit zumindest indirekt auch der Stellenwert der Beichte. Das Ringen ums rechte Verständnis der Gnade Gottes und der Rechtfertigung des Sünders schloss die Bedeutung der geistlichen Begleitung und der Absolution selbstverständlich mit ein. Der Christenmensch konnte so sein Leiden an der eigenen Unvollkommenheit psychisch mehr oder weniger gut verarbeiten und sich immer wieder neu am Zuspruch des Evangelium aufrichten, sich trösten lassen und im Glauben wachsen.
Auch Luther schätzte die Beichte
Das ist lange her. Heutzutage erscheint die Beichte als eine weithin in Vergessenheit geratene Chance geistlichen Lebens. Dabei galt und gilt sie nicht nur in der katholischen Kirche als Sakrament; vielmehr hatte auch Martin Luther sie entsprechend hoch eingeschätzt! Zunächst hatte er als junger Mönch im Kloster gelernt, Vergebung der Sünden und Heilung durch eigene, vor Gott anzurechnende "gute Taten" bzw. "Werke" zu erhoffen.
Doch bei allen frommen Bemühungen erfuhr er, dass sie nicht geeignet waren, die Spaltung im Gottesverhältnis und die damit zusammenhängende religiöse Angst zu überwinden. Erst als er die Gerechtigkeit Gottes nicht mehr als bedrohend verstand, sondern als Geschenk, als Ausdruck für die liebevoll eintretende Gottesherrschaft, bedeutete das die reformatorische Entdeckung schlechthin.
Luther unterschied Gesetz und Evangelium
Fortan unterschied Luther streng zwischen Gesetz und Evangelium. Das eine setzt das andere nicht außer Kraft – und doch hat das Evangelium die ungleich größere Wirkmächtigkeit: Wer im Glauben an den gekreuzigten Auferstandenen lebt, der ist dem Reformator zufolge bereits mit Kopf, Leib und einem Bein aus dem Grab heraus auferstanden, so dass
"nicht mehr denn der linke Fuß dahinten bleibt. Denn die Sünde ist ihm schon vergeben und ausgetilgt, Gottes Zorn und Hölle ausgelöscht, und er lebt bereits ganz in und bei Christus nach dem besten Stück (welches die Seele ist) teilhaftig des ewigen Lebens..."
Dabei wusste Luther genau, dass das Geschenk der Gerechtigkeit vor Gott einerseits total gilt, andererseits sich aber auch in der Zeit prozessual im Sinne einer wachsenden Gerechtigkeit vor Gott darstellt: "Also bleibt in diesem Leben stets die Sünde, bis die Stunde des Jüngsten Gerichts kommt, und dann schließlich werden wir vollkommen gerecht gemacht werden." Demnach bedeutet Buße ein Immer-wieder-Hineinkriechen ins Sakrament der Taufe, die in ihrer Einmaligkeit dem Ein-für-Allemal des Heilsgeschehens in Jesus Christus entspricht. Buße und Beichte dürfen jederzeit erfolgen; sie werden als Erneuerung des inneren Menschen erfahren wie ein erfrischendes Bad.
Luther wertete Beichte als "drittes Sakrament"
Von daher hat Luther die Beichte so hoch geschätzt, dass er hat sie in seinem Büchlein "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" und noch im "Großen Katechismus" neben Taufe und Abendmahl als "drittes Sakrament" gewertet hat. Hatte nicht Christus selbst die Absolution seiner Christenheit in den Mund gelegt und die Lossprechung von den Sünden befohlen? Libertinisten, die meinten, man habe das Beichten nicht nötig, sollten nach seiner Überzeugung gar vom Sakrament des Altars ausgeschlossen werden.
Abgegrenzt hat sich der Reformator auf der anderen Seite gegenüber der katholischen Praxis, indem er jeden Zwang zum Beichten abgelehnt und alles dafür getan hat, um dessen positive, stärkende und tröstenden Elemente hervorzuheben. Er unterschied zwischen dem menschlichen Teil der Beichte, nämlich dem Bekennen der Schuld einschließlich des Begehrens nach dem "köstlichen Schatz" seelischer Erquickung, und dem göttlichen Werk auf der anderen Seite, das darin besteht, dass Gott sein befreiendes Wort durch Menschenmund ausrichtet.
Herumkramen schadet der Seele
Diesen zweiten Teil nannte Luther das Vornehmste und Edelste an der Beichte, weil er ein fröhliches Herz und Gewissen mache. Deshalb komme es nicht darauf an, aufs Genaueste alle Sünden zu benennen; solches Herumkramen lasse das Sakrament sauer erscheinen und schade der Seele. Vielmehr sollten wir klar differenzieren und
"unser Werk gering, aber Gottes Wort hoch und groß achten und nicht hingehen, als wollten wir ein köstliches Werk tun und ihm geben, sondern nur von ihm nehmen und empfangen."
Wer kein Verlangen danach habe, den solle man fahren lassen, weil er offenkundig das Evangelium nicht hoch schätze und eigentlich – man höre! – das Christsein aufgegeben habe.
Was bedeuten diese theologischen Aussagen des Reformators für uns Heutige? Sind sie obsolet geworden, weil der moderne Mensch nicht mehr nach der Gerechtigkeit fragt, die vor Gott gilt? Oder fordern sie zu einer Rückbesinnung auf das vergessene Sakrament der Beichte auf, dessen geistliche und kirchliche Relevanz unter Protestanten lange Zeit verkannt wurde? Ist eine Wiederentdeckung der Beichte im Kontext des 500. Reformationsjubiläums angesagt?
Von Todesahnung geplagter Komponist ließ sich die Beichte abnehmen
Der berühmte Musiker und Komponist Max Reger traf 1916, sechs Wochen vor seinem Tod, nach einem Konzert in Holland nachts im Hotelflur auf einen katholischen Geistlichen. Spontan nutzte er die günstige Gelegenheit: Geplagt von Todesahnungen, ließ sich der 43-Jährige zwei Stunden lang die Beichte abnehmen. Das war etwas Besonderes für ihn, denn der katholisch Getaufte war wegen der Heirat mit einer evangelischen, geschiedenen Frau exkommuniziert worden. Seither quälte er sich im Rahmen einer christlichen Privatreligion mit einer Art "Werkgerechtigkeit" ab.
Durch sein Handeln und Leisten wollte er sich rechtfertigen – gerade auch durch seine Musik. Wie Bach sah er in der Musik eine Schöpfung Gottes, der er intensiv zu dienen suchte. Und zwar so intensiv, dass das in selbstzerstörerische Arbeitswut ausartete. Regers lange Jahre unterdrücktes Bedürfnis nach Beichten und Lossprechung konnte damals nur angesichts der spontanen Ermöglichung und unter dem Einfluss von Alkohol zum Zuge kommen und erfüllt werden.
Belastetes Gottesverhältnis kann seelisch sehr wirksam werden
Der nach seinem Tod durch Bruch des Beichtgeheimnisses bekannt gewordene Bußgang macht exemplarisch deutlich, wie sehr ein belastetes Gottesverhältnis seelisch wirksam werden und sich verzweifelt ein Ventil suchen kann. Was sollte sich hieran im Blick auf die Christinnen und Christen des 21. Jahrhunderts geändert haben? Leben nicht viele von ihnen im digitalen Zeitalter unter einem enormen Leistungsdruck, dem sie oft auch deswegen zu entsprechen suchen, weil sie im Sinngefüge ihrer Existenz kein anderes Ventil mehr kennen?
Leichtfertig hat man in neuerer Zeit die von Luther und übrigens auch Melanchthon befürwortete Einordnung der Beichte als Sakrament dem Vergessen überlassen. Einig war man sich allerdings in dieser Frage schon mit den Schweizer Reformatoren kaum gewesen. Allein in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) wird der sakramentale Charakter der Beichte nach wie vor hochgehalten: Dort gibt es immer noch die wohltuende Praxis, die Absolution im Gottesdienst unter Handauflegung jedem Einzelnen vom Pfarrer zuzusprechen.
Beichte hängt mit Taufe zusammen
Freilich muss man sich hinsichtlich der Einschätzung als Sakrament nicht zerstreiten, zumal dieser Oberbegriff nicht einmal biblischer Herkunft ist. Die abstrakte theologische Bestimmung, zu Gottes Wort müsse bei Sakramenten ein äußerliches, dingliches Zeichen hinzukommen, macht jedenfalls bei der Beichte gewisse Schwierigkeiten. Ihre sakramentale Hochschätzung bei den deutschen Reformatoren gründet allerdings in ihrem inneren Zusammenhang mit der Taufe: Nach dem immer wieder zu erfahrenden Scheitern am verurteilenden Gesetz geht es bei der Beichte um eine Aktualisierung dessen, was in der unwiederholbaren Taufe geschehen ist.
Mit dem rückwärts gewandten Bezug zur Taufe hat in der Beichte dann aber auch die in der Taufe selbst verankerte Vorwegnahme des rechtfertigenden Freispruchs im Endgericht ihren Ort. In der Gegenwart der Absolution am Schluss des Beichtvorgangs wird nämlich der Blick in die Vergangenheit des Taufgeschehens und in die Zukunft der Vollendung gerichtet. In der paradoxen Lebenssituation als Sünder und Gerechtfertigter zugleich muss der zutiefst endgültige, auf ewig erfolgende Freispruch doch je und je aufs Neue bewusst gemacht und aktuell geglaubt werden.
Das kann durchaus auch im Zuge eines Gebets oder in einer Art Beichtgespräch mit Glaubensgeschwistern (1. Thess 5,11; Jak 5,16) geschehen. Freilich ist es eine besonders tiefgehende Erfahrung, die Absolution aus dem Mund eines Ordinierten in feierlicher Zeremonie zu erhalten. Wäre es nicht an der Zeit, im Sinne der Unterscheidung Luthers zu überlegen, künftig diese Zeremonie statt nach ihrem ersten Teil als Beichte besser gemäß ihrem zweiten Teil als Feier, wenn nicht sogar tatsächlich wieder als Sakrament der Absolution zu bezeichnen?
Buße der Vergessenheit entreißen
Das könnte mit dazu beitragen, das reformatorisch einst als so befreiend gedeutete und gern praktizierte Bußsakrament der Vergessenheit zu entreißen. Beichte und Absolution wiederzuentdecken ist dort lohnend, wo der Gedanke des Heiligen kirchlich neu einleuchtet.
Peter Zimmerling hat Recht:
"Indem in der Beichte die Sünde und Schuld des Menschen ernst genommen werden, erinnert sie an Gottes Heiligkeit und bewahrt vor einem verflachten Gottesverständnis im Sinne eines Gottes, dessen Metier es sei, dem Menschen zu verzeihen‘, wie Voltaire spottete."
Eine dauerhafte Wiedergewinnung der Beichte – so Zimmerling weiter – werde freilich "nur möglich sein, wenn in Theologie und Kirche kontinuierlich über deren Chancen und Möglichkeiten gelehrt und gesprochen und sie regelmäßig angeboten wird." Vielleicht kann der Kompass der evangelischen Kirche demnächst justiert werden, dass sich diese Vorschläge realisieren lassen.
Dazu gehört allerdings auch eine theologische Wiederentdeckung dessen, was der Begriff der Sünde meint. Dem modernen Menschen, ja vielen zeitgenössischen Gläubigen sind die Implikationen der Rede von Sünde nicht mehr recht bewusst. Hans Herlin lässt in dem Roman "Gras im Feuer" ( 1976) einen Mann nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts eines Beichtstuhls sinnieren:
"Sich all die Sünden vorstellen, die dort ausgesprochen worden waren! Generationen und Generationen von Sünden! Waren Sie schlimmer geworden? Hatten sie sich gesteigert? Die Priester wussten es. Einmal, nur einmal zuhören!"
Seien die Priester nicht darum zu beneiden: Beichten zu hören, Geständnisse, Sünden? "Die vielen schönen Sünden!" Aber das sei ja nun bald dahin und vorbei; manche Priester hörten schon keine Ohrenbeichte mehr, und wer weiß, demnächst würden sie auch noch heiraten… Im Jahr 2022 wird nun tatsächlich in der katholischen Kirche überlegt, ob man Priester nicht besser doch heiraten lassen sollte – eigentlich ein durchaus reformatorischer Gedanke! Die Heiligkeit des Priestertum müsste dadurch keineswegs verloren gehen, wie man theologisch im Grunde weiß. Aber wie lässt sich die Heiligkeit der Beichte wiederentdecken – und wie ein angemessener Begriff von "Sünde"?
Schluss mit Sünde?
Ohne Zweifel gehört zum Verständnis dieses Wortes ein Verstehen seiner Bezugsbegriffe "Gott", "heilig" und "Gericht". Das ganze theonome Paradigma dieses religiösen Bedeutungskomplexes wird dort kaum verstanden, wo das Paradigma der Autonomie regiert. Deshalb hat der liberale Theologe Klaas Huizing das Buch "Schluss mit Sünde" (2017) geschrieben, woraufhin Ingolf U. Dalferth sachgemäß mit dem Werk "Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit" (2020) gekontert hat. Ohne eine Wiedergewinnung der spirituell gefüllten und heiligmäßig gefühlten Rede von Sünde braucht es natürlich auch keine Beichte mehr, aber auch keine Lehre von der Rechtfertigung, also im Grunde auch keine sich "lutherisch" nennende Kirche mehr. Theologisch gilt es, den Paradigmenkonflikt zu analysieren, darzustellen und einer sachgemäßen Lösung zuzuführen.
Diese muss keineswegs Versöhnung zwischen liberaler und eher konservativ orientierter Theologie bedeuten, sondern könnte sich um der auszurichtenden Botschaft willen an Jesu Wort orientieren: "Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (Mat 19,34). Diejenigen, die sich gedrängt fühlen, zu beichten, sind gehalten, sich von denjenigen zu scheiden, die darüber nur spotten zu müssen meinen.
Die Alten haben schon immer gewusst, dass es neben und inmitten der wahren Kirche auch eine falsche, eine verkehrte Kirche gibt. Das sich erneut bewusst zu machen, heißt im Blick auf den Gekreuzigten kirchlich entschlossen den Weg der Kreuzesnachfolge zu gehen und deshalb Buße zu tun, stattgefundene Entfremdung als Sünde zu bekennen und in diesem Ernst spirituelle Erneuerung zu erbitten.
Es gilt zu beichten, das uns die Beichte wieder heilig werden sollte.
Evangelische Kirche – Schiff ohne Kompass? Impulse für eine neue Kursbestimmung
Theologe Werner Thiede zeichnet in seinem Buch (Hardcover, 15 €) das Bild einer evangelischen Kirche in der Krise. Immer mehr Protestanten fragen sich, ob ihre Religionsgemeinschaft noch auf Kurs ist und wie "reformatorisch" ihre Verlautbarungen heute noch sind. Zeugen evangelische Gottesdienste heute noch hinreichend vom Kern protestantischer Botschaft? Gehen angeblich "notwendige" Versuche, das Evangelium "zeitgemäß" zu transformieren, nicht oft in eine falsche Richtung? Trägt etwa die aktuelle "Orientierung" der EKD in Sachen Ehe und Familie nicht eher zur Desorientierung, zu kirchlicher Spaltung und Entfremdung bei? Das große Reformationsjubiläum 2017 ist für viele evangelische Christen Anlass zum Feiern - aber gewiss auch zur Besinnung und zum Stellen der Frage: Fährt das Schiff der evangelischen Kirche nicht derzeit ohne Kompass? In seinem engagierten Debattenbuch richtet Thiede den Blick auf das bleibend aktuelle Erbe der Reformation. In 95 Thesen zeigt er, wie die EKD wieder zukunftsfähig werden kann.