Auf dem Papier ist Heidi Reichinnek nicht gläubig. Erst vor wenigen Wochen sorgte ihr Kirchenaustritt für Schlagzeilen: Co-Vorsitzende der Fraktion "Die Linke" hat der evangelischen Kirche den Rücken gekehrt.
Nicht aus Ablehnung – sondern aus Konsequenz. "Ich habe großen Respekt vor Religion", sagte sie der Neuen Osnabrücker Zeitung. "Aber ich bin letzten Endes halt nicht gläubig." Eine klare Absage – ohne Abwertung.
Reichninnek bezeichnet sich selbst als Agnostikerin – sie schließt also nicht aus, dass es Gott gibt. Ihre Wertschätzung für die gesellschaftliche Rolle der Kirchen mindert das jedoch keineswegs.
Gerade in der Sozialen Arbeit sei ihr klar geworden, welche Funktion sie haben: Für viele Menschen sind Kirche und Glauben "ein wichtiger und manchmal letzter Halt". Eine Erfahrung aus Begegnungen mit Menschen in existenzieller Not.
Auch inhaltlich erkennt Reichinnek Überschneidungen zwischen Kirche und linker Politik. Papst Franziskus etwa schätzt sie für seinen Einsatz gegen Armut und Ausgrenzung, insbesondere in der Flüchtlingspolitik. Sie hoffe, dass die Kirche unter Leo XIV. diesen Weg fortsetze – "zumindest da, wo er sozial war".
Christlich geprägt in der DDR
Reichinneks Herkunft erklärt manches: 1988 in Merseburg geboren, wuchs sie im sachsen-anhaltischen Oberhausen auf – einem 2000-Seelen-Ort im Saalekreis, christlich geprägt und tief in der DDR verwurzelt. Ihre Eltern – Chemiefacharbeiterin und Elektriker – leben noch heute dort. Dass sie nach der Wende ihre Arbeitsplätze behielten, sieht Reichinnek rückblickend als Glück. Und als Erfahrung: In ihrem Elternhaus galt Gleichstellung als selbstverständlich – und der Glaube als Privatsache.
Für eine Linken-Politikerin erfolgte ihr Kirchenaustritt vergleichsweise spät – vermutlich eine Folge ihrer familiären Prägung. Der Zeitpunkt fällt mit ihrem Einzug in den Bundestag zusammen. Im ZEIT-Podcast "Alles gesagt" erzählt sie, dass sie in der Kirchenzugehörigkeit keinen Sinn mehr gesehen habe. Das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland sehe sie kritisch – ebenso wie das kirchliche Arbeitsrecht und die Kirchensteuer. Sie wünsche sich zwar, gläubig zu sein, entscheidet sich aber für das offene Fragen – und die Möglichkeit, überrascht zu werden.
Über ihre Eltern und deren Glauben ist wenig bekannt. Sicher ist nur, dass beide überzeugte Christ*innen sind – aber keine Sozialist*innen, wie Reichinnek immer wieder betont.
Schon in ihrer Kindheit erlebte Reichinnek, wie engagiert sich ihre Eltern in der Kirche einbrachten. In der DDR galt Kirchenmitgliedschaft als stilles Bekenntnis gegen das Regime. Die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus), Nachfolgepartei der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) und damit der ehemaligen Staatspartei, war für ihre Eltern "ein rotes Tuch". Und doch arrangierten sie sich mit dem System – und lebten ihren Glauben im kirchlichen Raum.
Beruflicher Weg zwischen Orient und Okzident
Reichinnek ist getauft, konfirmiert und sang im Kirchenchor ihrer Gemeinde. Auch wenn sie dadurch nicht automatisch gläubige Christin wurde, interessierte sie sich schon früh für Religion – und dafür, "wie Menschen Religion für sich nutzen".
Damit meint sie ausdrücklich nicht nur einen Missbrauch des Glaubens. Nach dem Abitur 2007 entschied sich Reichinnek deshalb für ein Studium der Nahost-Studien und Politikwissenschaft in Halle-Wittenberg. Ursprünglich wollte sie Judaistik studieren, weil sie monotheistische Religionen faszinierend fand – doch das reine Lesen mittelalterlicher Texte erschien ihr "zu altbacken".
Der damals neu eingeführte Studiengang Nahoststudien bot ihr stattdessen eine Kombination aus Judaistik, Islamwissenschaft und Politikwissenschaft. Sie lernte Hebräisch und Arabisch und verbrachte 2010/11 zwei Semester in Kairo – mitten im Arabischen Frühling. Ihren Master absolvierte sie am Zentrum für Nah- und Mitteloststudien in Marburg und arbeitete dort im Auftrag des Auswärtigen Amtes zu Islamismus und Salafismus.
Damals plädierte Reichinnek – etwa in Aufsätzen für die Rosa-Luxemburg-Stiftung – für einen offenen Dialog mit moderaten Islamisten. Auf Augenhöhe, mit dem Ziel, Reformkräfte zu stärken und demokratische Debattenräume zu öffnen. Heute sieht sie das kritisch. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und der Eskalation in der Region sei klar: "Das damalige Möglichkeitsfenster für demokratische Entwicklungen hat sich geschlossen."
Nähe zur Kirche – aus der Praxis
Danach wendete sie sich der sozialen Praxis zu: arbeitete zunächst als Sprach- und Kulturfachkraft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, später als pädagogische Mitarbeiterin in der evangelischen Jugendhilfe Osnabrück. Auch hier begegneten ihr christliche Werte – nicht als Dogma, sondern als gelebter Alltag.
Wie Reichinnek ihre christliche Prägung heute politisch nutzt, bleibt eine offene Frage. Ihre Haltung zur Kirche wirkt pragmatisch: Die Institution hält sie auf Abstand, ihr soziales Wirken erkennt sie an. Auch ihr Blick auf religiöse Fragen im globalen Kontext – insbesondere im Nahen Osten – verrät eine Haltung, die sich nicht vom Pathos leiten lässt: respektvoll, aber ohne Sentimentalität.
Diese Haltung findet ihr Pendant im Programm ihrer Partei. Die Linke verteidigt das Recht auf Religionsfreiheit – als Schutzraum für Glauben, Gewissen und Bekenntnis. Sie setzt sich für die Rechte religiöser Minderheiten ein, namentlich für jüdische und muslimische Gemeinschaften, und benennt antimuslimischen Rassismus als Form struktureller Ausgrenzung. Zugleich besteht sie auf der Gleichstellung säkularer Weltanschauungen, auf das Recht, Atheist*in zu sein.
Fazit
Heidi Reichinnek ist nicht gläubig – und dennoch spielt Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Der christliche Glaube hat sie nicht getragen, aber geprägt und begleitet. Ihr Verhältnis zur Kirche und zum Glauben ist geprägt von kritischer Distanz, zugleich aber von Respekt und Neugier. Sie zeigt, dass es möglich ist, Religion politisch ernst zu nehmen, ohne sich selbst religiös zu verorten.
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