Jedes Jahr schenke ich meinen Eltern eine geschnitzte Figur für ihre Weihnachtskrippe. Vor etwa zehn Jahren habe ich damit angefangen. Es begann mit dem Stall und dem Minimalinventar, also dem Jesuskind in der Krippe, Maria und Josef, Ochs und Esel, zwei Hirten und drei Schafen. Im Jahr darauf kamen die Heiligen Drei Könige hinzu. Dann zwei Schafe und ein Hirtenhund. Dann ein paar Engel. Dann ein Hirtenjunge.

Krippenfiguren: Engel und Engelchen

Spätestens nach vier Jahren hätte mich die Phantasie für weitere sinnvolle Krippenbevölkerungen verlassen. Aber da es das Geschäftsmodell der Krippenschnitzereien zu sein scheint, für eine schier unendliche Figurenvielfalt zu sorgen, ist die Sache ganz einfach. Jeden Advent begebe ich mich in das mir vertraute Geschäft für erzgebirgische Volkskunst, das eine geheimnisvolle Fügung mitten in der Fränkischen Schweiz platziert hat. Dort suche ich mir aus dem Schaufenster etwas Schönes aus. Zu den Engeln hat sich inzwischen ein Engelchen gesellt, zum Esel ein Eselchen. Und es tummeln sich auch schon Hasen, Rehe und ein paar Nomaden und Nomädchen in verschiedenen Hautfarben an der Krippe und irgendwie auch ein bisschen am Rande des Kitsches. So Gott will und meine Eltern noch eine Weile leben, wird von Jahr zu Jahr ein bunterer Tier- und Menschenpark in ihrem weihnachtlichen Wohnzimmer zu sehen sein. Hoffentlich reicht der Platz.

Übrigens: Sollten den Krippenschnitzern einmal die Ideen ausgehen, weiß ich jetzt Rat. Die düstere Lage in der Welt, in unserem Land und in vielen Herzen hat meine anfängliche Krippenfantasielosigkeit in einen erstaunlichen Ideenreichtum verwandelt. Wie es dazu kam? Eigentlich durch eine Bemerkung des Regisseurs Francis Ford Coppola. Der sagte kürzlich in einem Interview: "All der Horror, der uns umgibt, kommt aus dem Zustand der Unerfülltheit." Wenn es an mir gewesen wäre, diesem Satz einen zweiten hinzuzufügen, hätte ich gesagt:

"Aber wenn es irgendwo auf der Welt einen Ort gibt, an dem Erfüllung zu finden ist, dann an der Krippe im Stall von Bethlehem.

Dort, in der Krippe, liegt sie, die Antwort auf all unsere Fragen, die Lösung all unserer Probleme, das Heil einer unheilen Welt und der Friede auf Erden. Wenn sie ihn sähe, seinen Stern, unsere zerstrittene und zerrissene Welt, und wenn die zwiespältige Menschheit wie einst die Hirten, die Weisen und die Könige einmütig zum Stall käme, dann bräuchte niemand mehr um die Zukunft des blauen Planeten zu fürchten. Wenn sie in einer der umkämpftesten Regionen aller Zeiten gemeinsam ihre Knie beugen würden, die Super-Egos unserer Zeit, um ihm, dem ach so kleinen und gerade deshalb so entwaffnenden Ego, die Ehre zu erweisen, dann wäre wirklich Weihnachten. Dann müssten wir nicht nur sehnsüchtig singen: "Christ, der Retter, ist da!" Dann könnten wir dem Kindlein in der Krippe beglückt zuflüstern: "Christ, unser Retter, du bist da! Es ist unglaublich. Du hast sie magisch angezogen, die Schweinehunde unserer Zeit. Die Kriegstreiber. Die Gewissenlosen. Die Selbstbesoffenen und Selbstgerechten. Die, die über Leichen gehen. Du hast sie in die Knie gezwungen. Und in Deiner Nähe und unter Deinem guten Stern ertragen sie sogar einander."

Donald Trump und Wladimir Putin als knieende Krippenfiguren

Früher hat man mir oft gesagt, ich solle mir diejenigen, vor denen ich mich am meisten fürchte, einfach mit heruntergelassenen Hosen auf der Toilette vorstellen. Heute würde ich sagen, dass es spirituell klüger und psychohygienisch sinnvoller ist, sie sich vor der Krippe kniend vorzustellen. Was für ein Bild! Wladimir Putin, Kim Jong-un, Baschar al-Assad, Donald Trump und Xi Jinping als knieende Krippenfiguren. Und vielleicht auch der eine oder andere Wahlkämpfer, die eine oder andere Wahlkämpferin und andere Super-Egos unserer Republik und unserer Kirche.

Aber eigentlich sollten nicht nur sie, sondern auch wir zu Krippenfiguren werden. Jeder und jede von uns. Denn nur dort, beim Kind in der Krippe, können wir den Ballast abwerfen, den wir mit uns herumschleppen. Den Ballast unserer Sorgen. Die Last unserer eigenen Wichtigkeit und Selbstfixierung, von der wir uns so schwer lösen können - wenn wir überhaupt auf die Idee kommen, uns davon lösen zu wollen. Die Last der Damoklesschwerter, die über uns hängen. Die Last unserer Krankheiten und Leiden. Und die Last unserer Angst vor der großen Nacht des Todes. An der Krippe ist Platz. Platz für die Geschenke, um derentwillen unser Heiland Mensch geworden ist: die Päckchen, die wir zu tragen haben. Die Päckchen, die schwer auf uns lasten. Die Päckchen, die uns überfordern. An der Krippe ist unendlich viel Platz. Platz für jede und jeden von uns. Platz für alle Not und alles Elend der Welt.

Auch aus dieser Not und diesem Elend könnten findige Schnitzer und Schnitzerinnen Krippenfiguren machen. Sie könnten all das, was wir auf dem Rücken tragen, in grau, schwarz oder blutrot bemalte Holzpakete schnitzen.

Ich weiß nicht, ob ich meinen Eltern solche Krippenfiguren zumuten möchte. Eher nicht. Aber vielleicht wäre es ja gar keine schlechte Idee, aus diesem Gedankenexperiment ein Krippenspiel für die Christmette zu machen. Eine Prozession. Jeder und jede kann nach der Lesung des Weihnachtsevangeliums mit seinem oder ihrem Päckchen zur Krippe kommen, sich hinknien und ein kleines oder großes Geschenk ablegen. Gerne auch mit dem eigenen Namen beschriftet. Oder mit den Namen derer, die nicht mehr gehen können, weil sie krank und gebrechlich sind oder im Sterben liegen. Dieses Krippenspiel wäre auch eine Art Beichte. Vielleicht sogar ein Exorzismus. Auf jeden Fall wäre es eine Erlösung. Am Ende würden sich in den Kirchen die Weihnachtspäckchen um die Krippen höher stapeln als in den DHL-Filialen und Amazon-LKWs. Das ersehnte Christkind würden wir vor lauter Päckchen vielleicht nicht mehr sehen. Aber wir würden bestimmt um so lauter, um so fröhlicher, um so erleichterter, mit um so glänzenderen Augen und um so höher schlagenden Herzen singen: "Christ, der Retter, ist da!"

Frohe Weihnachten!

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