Der Advent franst aus. Vielleicht franst sogar Weihnachten aus. Und zwar mehr denn je. Mindestens in den November hinein. In manchen Schaufenstern stehen sogar schon seit Ende Oktober Christbäume. Viele Häuser und Wohnungen sind lange vor dem ersten Advent mit Lichterketten geschmückt. Pünktlich zum Ende der großen Ferien quellen die Supermärkte von Schokoladennikoläusen und Weihnachtssüßigkeiten über. Kaum ein Spätherbstwochenende, an dem kein Winter-, Schneeflocken- oder Weihnachtsmarkt stattfindet.
"Wir haben am Wochenende das ganze Haus weihnachtlich dekoriert. Ich kann es den Kindern einfach nicht zumuten, noch länger zu warten", sagt die Frau in der U-Bahn zu ihrer Freundin. Ich beiße mich auf die Zunge und denke:
"Advent ist doch im Advent und nicht schon vorher."
Hätte ich das laut ausgesprochen, wäre mir die Antwort sicher gewesen, jeder müsse doch selbst entscheiden, wann für ihn die Weihnachtszeit beginnt.
Möglicherweise hätten mich die beiden zurückgefragt, wie ich denn überhaupt dazu komme, Menschen bevormunden und ihre spirituelle Selbstbestimmung beschneiden zu wollen. Und bestimmt hätten sie mir den Rat gegeben, mich lieber zu freuen, dass Advent und Weihnachten in einer säkularen Welt noch ein Thema sind, statt darüber zu mosern, dass Individuen selbstwirksam und autonom ihre Bedürfnisse nach mehr Licht in dunkler werdenden Zeiten schon vor dem ersten Advent befriedigen.
Spirituelle Notausgänge aus der entzauberten Realität
Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht müsste ich von Herzen froh und dankbar sein, dass Menschen sich spirituelle Notausgänge aus der entzauberten gesellschaftlichen Realität suchen, das Interesse an den neuwahlbedingt unvermeidlichen politmoralischen Winterspielen und Empörungswettbewerben zu verlieren beginnen und lieber ihren Wohnungen, ihren Häusern und ihrem Leben selbst Lichter aufsetzen, statt sich von Besserwissenden jeglicher politischer Couleur hinters Licht führen zu lassen. Vielleicht ist es vollkommen okay, wenn Menschen sich danach sehnen, dass es heller wird, weil es ihnen zum Halse heraushängt, dass Andere ihnen unentwegt erklären, dass sie bessere Menschen werden müssen und welche Gesetze, Verordnungen, Disziplinierungen und Bewusstseinsveränderungen es dafür braucht. Vielleicht wollen die Adventsverlängerungsbegierigen ja nur ihre verdiente häusliche Ruhe vor Übergriffigkeiten im Namen einer besseren Welt, die sie eben nicht für eine bessere Welt halten.
Natürlich ist der ganze Weihnachtszauber auch ein Geschäft. Ein Geschäft mit dem schönen Schein sozusagen. Und natürlich sind es auch die sozialen Medien, die uns in Sachen Weihnachten unters Bewusstsein greifen und offenbar gegenwärtig mehr denn je einen Trend des vermeintlich individuellen Andersseins durch frühzeitiges Christbaumaufstellen propagieren. Aber alles in allem könnte es ja sein, dass der Wunsch nach mehr Advent ein menschlich-allzumenschlicher, vor allem aber eine psychohygienisch zu¬tiefst nachvollziehbare Reaktion heillos überforderter Menschen auf zunehmende Weltverdunklung und Gemütsverdüsterung ist.
"Von November bis Weihnachten besuche ich an jedem Wochenende einen anderen Weihnachtsmarkt zwischen Hamburg und Wien und schwelge in Glühwein. Anders würde ich diese trübe Jahreszeit nicht aushalten", sagt eine Studentin zu mir.
Adventszeitdilatation als Stimmungsaufheller und als spirituelle Orgasmusverlängerung. Warum auch nicht.
Ein abgrundtiefer Verlust
Und doch machen mich Schaufensterchristbäume Anfang November traurig. Ebenso, wie mich Weihnachtsmärkte traurig machen, die nicht mehr so heißen dürfen, um keine nichtreligiösen oder andersreligiösen Gefühle zu verletzen. Aber das ist ein anderes Thema. Dass der Advent neuerdings schon Wochen vor der Adventszeit beginnt, macht mich deshalb traurig, weil ich nicht nur eine große Sehnsucht, sondern auch eine große Trostlosigkeit darin zu erkennen glaube. Wenn jeder und jede für sich und die Seinen selbst entscheiden kann, wann es Zeit für Advent und Weihnachten ist, dann ist das nicht nur ein Zeichen religiöser beziehungsweise religionskritischer Mündigkeit und Freiheit. Es zeugt eher von einem abgrundtiefen Verlust. Vom Verlust der Verankerung in einer Wirklichkeit, die vor uns da war und für uns da ist, damit wir in ihr Geborgenheit finden und vom Fluch unserer transzendentalen Obdachlosigkeit befreit werden.
Wenn jeder für sich selbst entscheiden kann, wann die Weihnachtszeit beginnt und wann sie endet, dann heißt das letztlich, dass wir es sind, die etwas bewerkstelligen, was ohne uns nicht wäre, dass also Advent und Weihnachten eine Art selbstgemachter Sinn sind. So ähnlich wie selbstgebackene Weihnachtsplätzchen. Und wenn wir allein es sind, die diesen Sinn machen, dann ist nichts dahinter außer uns selbst und dann weist nichts Adventliches über sich und über uns hinaus. Dann ist Advent, also das Warten auf die Ankunft Gottes in der Welt, Illusion. Dann sind wir unter einem dunklen, leeren Himmel mit uns und dem Licht, das wir machen, allein. Wir sind allein mit den Finsternissen unseres Lebens. Und mit dem Lichterglanz, der uns die Dinge allenfalls etwas positiver sehen lässt, als sie in Wahrheit sind.
Angesichts all dessen bin ich heilfroh, dass ich in Sachen Advent und Weihnachten aus tiefstem Herzen Traditionalist bin. Mag man von Tradition halten, was man will: sie gibt uns, wenn wir sie pflegen und uns von ihr pflegen lassen, Heimat, also Zukunft und Herkunft zugleich. Zugleich weist sie über sich hinaus, weil sie eine ganz andere Heimat, eine ganz andere Herkunft und eine ganz andere Zukunft zum Vorschein kommen lässt. Eine Heimat jenseits unser bürgerlichen und unserer unbürgerlichen Lebens- und Weihnachtswelt. Eine Heimat jenseits unserer Heimatsuggestionen. Eine Heimat, die durch den Boden der Tatsachen hindurch sichtbar wird, wenn wir im Kind in der Krippe den Heiland der Weltwunden erkennen. Den Friedefürst. Den Retter, bei dem die unruhigen Herzen der Weltkinder Ruhe finden, weil er die Wunden der Zeit heilt, sie in Ruhe sein lässt und aus dem Dunkel der Todesnacht erlöst.
Ich bin aber nicht nur Traditionalist. Ich bin geradezu Adventsfetischist. Von der Zeitumstellung auf Winterzeit an sehne ich mich nach Adventskränzen, Räucherkerzen und Herrnhuter Sternen. Ich hüte mich jedoch davor, der Adventsinflation Vorschub zu leisten und es vor dem ersten Advent Advent werden zu lassen. Und zwar hüte ich mich um so mehr davor, je unwiderstehlicher die Versuchung wird, die Novembertristesse durch die Wärme adventlichen Lichts auszutreiben.
Heiliger Abend ist heilige Zeit
Warum ich mich davor hüte? Weil ich davon überzeugt bin, dass die Zeiten des Kirchenjahres ein unendlich kostbarer Abglanz der Zeit Gottes sind, die in unsere kranke, hinfällige, vergängliche, verrinnende Zeit hereinbricht und sie von sich selbst erlöst. Ich hüte mich davor, mich zum Herren der Adventszeit zu machen, weil ich nicht Herr der Zeit, geschweige denn meiner Zeit bin. Ich glaube vielmehr wirklich, dass meine Zeit in Gottes Händen steht. Und weil ich das glaube, versuche ich all meinem Unglauben zum Trotz aus Gottes Händen die Zeit zu nehmen, die er mir schenkt. Nicht nur die Zeit meines armseligen Lebens, sondern die Fülle der Zeit, deren so dürftiger wie köstlicher Vorgeschmack jede Advents- und Weihnachtszeit ist.
"Feiern Sie dann auch zwischen November und Dezember ein paarmal Weihnachten, wenn Sie die Adventszeit auf ungefähr acht Wochen verlängern?", frage ich meine Studentin, die von Weihnachtsmarkt zu Weihnachtsmarkt reist. Sie ist empört. "Das würde ich nie tun", sagt sie. Beinahe fassungslos sagt sie es und weist die Idee weit von sich. "Warum denn nicht?", frage ich. "Es würde doch alles noch intensiver machen!" – "Nein, das geht gar nicht", sagt sie. "Der Heilige Abend, das ist der Heilige Abend. Der Heilige Abend ist einzigartig. Der lässt sich nicht einfach verschieben. Der Heilige Abend, das ist heilige Zeit."
Voilà.
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden