Medizin und Pharmazeutik haben in den letzten Jahren hohe Fortschritte bei der Schmerzbekämpfung gemacht. Das Netz von Hilfs- und Beratungsangeboten für Menschen mit Problemen ist heute dichter geknüpft denn je zuvor. Und Fun, Spaß, scheint das wichtigste Anliegen der heutigen Freizeitgesellschaft zu sein. Trotzdem: All diese Entwicklungen und Errungenschaften können nicht über eine Grundwahrheit hinwegtäuschen: Ein Leben ohne Leiden und Schmerzen gibt es nicht.
Jede Geburt ist verbunden mit Schmerzen, jedes Sterben mit Abschiednehmen. Dazwischen liegt eine lange Reihe von menschlichen Erfahrungen, zu denen das Glück ebenso gehört wie das Leid. Kein Kind kann ohne Kinderkrankheiten aufwachsen. Schwere Zeiten und Krisen gehören offensichtlich zum Großwerden.
Diese Erfahrung setzt sich im Erwachsenenleben fort: Krankheiten, Verletzungen körperlicher und seelischer Art, Trennungen, Trauer, Sehnsüchte - all das gehört zum Lebendigsein. Dabei liegt in jeder Krise eine Chance, in jedem Schmerz ein Keim für inneres Wachsen und Reifen.
Passion in der Bibel: Ist mein Leid eine Prüfung?
Auch wenn das Leid eine allgemeine und urmenschliche Erfahrung ist, wird es höchst individuell erlebt. Wer ein schweres Leid zu tragen hat, fühlt sich häufig einsam, auf sich gestellt. Oft stellt sich die Frage nach dem "Warum" - und dabei kommt Gott ins Spiel. Werde ich nun bestraft für etwas, was ich falsch gemacht habe? Oder ist mein Leid wie eine Prüfung? Will Gott mich testen, wie viel ich aushalte?
Bereits zur Zeit des Alten Testaments kannten Menschen solche Gefühle. Eindrucksvoll werden sie in den Psalmen ausgedrückt:
"Mein Gott, mein Gott, Warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe." (Ps 22,2-3)
"Meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode. Ich bin denen gleichgeachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie jemand, der keine Kraft mehr hat. Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten. Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus!" (Ps 88, 4-5.7-9)
Herausragendes Beispiel für einen leidenden Gerechten ist Hiob. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen, wird aber mit Krankheit geschlagen.
"Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch immer fest an deiner Frömmigkeit? Sage Gott ab und stirb! Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Weiber reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?" (Hiob 2,9-10)
Der Glaube an Gott, so Hiob, habe sich eben gerade in schweren Zeiten zu bewähren. Auch der Gedanke des stellvertretenden Leidens findet sich bereits im Alten Testament. Jesaja kündet einen "Knecht Gottes" an, der zum Leiden erwählt wird und stellvertretend für das Volk Israel zusammen mit Gott an der Welt leidet:
"Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt." (Jes 53,4-5)
Diese Prophezeiung wurde Jahrhunderte später von den ersten Christen auf Jesus von Nazareth bezogen. Man hatte erlebt, dass der geliebte Freund und Lehrer gequält und gefoltert wurde und schließlich unter unsäglichen Qualen am Kreuz sterben musste. Doch dann machten - zuerst die Frauen am Ostermorgen - die umwerfende Erfahrung, dass der Totgeglaubte lebte. Jesus, so bekannten sie, ist auferstanden. Er hat den Tod überwunden und besiegt. Deshalb war sein Leiden nicht umsonst.
Von Ostern her hat man in der Passion Christi einen Sinn entdeckt: Das Leiden musste sein, damit es überwunden werden konnte. Jesus hatte diese Erkenntnis einmal in einem Bild ausgedrückt: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht." (Joh 12,24). Und in seiner Bergpredigt hatte er vielen Menschen verheißen: "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." (Mt 5,4).
Leiden vermeiden und ertragen
Im Schicksal Jesu wird deutlich, dass Gott sich nicht aus der Gemeinschaft der Leidenden ausschließt. Mit seinem geliebten Sohn Jesus Christus zusammen erleidet Gott Traurigkeit, Einsamkeit, Schmerz und Tod. Er lernt die finstersten Tiefen menschlicher Existenz kennen. Dabei ist er wie einer, der alles, was er liebt, hergeben muß.
"Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." (Joh 3,16)
Der Glaube an den auferweckten Christus beinhaltet die Hoffnung, dass die Leiden dieser Welt eines Tages nicht mehr ins Gewicht fallen gegenüber der neuen Welt, die Gott schafft.
"Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, solch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen." (Offb 21,4)
Diese Hoffnung darf freilich nicht zu einer billigen Vertröstung auf's Jenseits werden. Jesus hat das Reich Gottes als gegenwärtige Realität verstanden. Er hat Menschen geheilt und getröstet und zur Nächstenliebe aufgerufen.
In seiner Nachfolge müssen wir uns - als einzelne Christen und als Kirche - immer wieder der Grundspannung aussetzen, einerseits Leiden zu vermindern, wo immer das möglich ist, andererseits Leid zu ertragen, wo immer das nötig ist.