Unterwegs zur Schokoladenkirche

Guten Morgen, kennen Sie die Schokoladenkirche? Die ist in Hohenfried, ein kleiner Ort bei Feldkirchen-Westerham, Landkreis Rosenheim, südlich von München. Ich bin in der Gegend groß geworden und liebe sie bis heute.  Hohenfried liegt im Wald und besteht aus zwei Gebäuden: Ein Haus, das Mesnerhaus, und eine Kapelle. Erbaut von der Familie Stollwerck, Unternehmer aus Köln mit einer Fabrik für Schokolade. Sie sind vor gut 100 Jahren von Köln hierher nach Südbayern gezogen. Stollwercks hatten eine Adoptiv-Tochter, Carlita, die war mit 9 Jahren verstorben und in Köln beerdigt. Die Eltern wollten sich ihrer Tochter auch nach dem Umzug nach Bayern nahe fühlen. Und so haben sie Carlitas Sarg hierher überführt und ihr eine neue Grabstätte erbaut, ein Mausoleum. "Mausoleum" kommt aus dem Arabischen und heißt "Heiligtum", "Wallfahrtsort", an einer besonderen Grabstätte errichtet.

Stollwercks waren alt-katholisch, sie gehörten also zur reformiert-katholischen Kirche, eine damals noch sehr kleine junge Kirche. Und sie überließen die Kapelle auch den Protestanten in der Gegend für ihre Gottesdienste. Protestanten und Alt-Katholiken – Minderheiten im damaligen katholischen Oberbayern, oft als ungläubig verschrien. Sie sind weite Wege gegangen nach Hohenfried. Dieses Kirchlein steht von Anfang an für: Christliche Toleranz. Und für Schokolade. Liebevoll heißt es bis heute "Schokoladenkirchlein". 

Als Kind und Konfirmand bin ich gern nach Hohenfried gegangen. Man ist eine gute halbe Stunde zu Fuß unterwegs, bis man da ist. Auf kaum befahrenen Straßen, an wilden Wiesen und Tiergehegen vorbei mit Rehen und Hirschen. Im Winter kann man Fußabdrücke von Tieren sehen. Dann ist man im Wald, es riecht nach Holz und Tannen. Und dann kommt der letzte steile Weg, hoch zur Kapelle.

 Man kommt rein und fühlt sich sofort geborgen, berührt von einer besonderen Atmosphäre. Alte Holzbänke, warme Farben. Im Altarraum ein großes Gemälde: Christus, gerade aus dem Grab auferstanden, im gelb-goldnen Gewand und ein Engel. Die zwei Fenster sind bunt gestaltet mit der Kreuzigung und der Geburt Christi. Vor allem das Weihnachtsfenster liebe ich. Maria und Josef, das Kind, und noch ein Mann, der das Kind bestaunt, vor kräftig blauem Hintergrund. Links ein Engel, rechts noch vier Leute, die dazu kommen. Die sehen nicht so wie aus wie Figuren der Bibel, sondern wie Menschen der Familie Stollwerck und aus der Umgebung. Und es gibt auch eine herrlich geschnitzte Weihnachtskrippe von einem Münchner Bildhauer. Wie bei den Fenstern so sind auch bei der Krippe real lebende Menschen Vorlage für die Figuren. 

Sie merken schon, ich schwärme. Diese Kapelle ist wirklich ein Kleinod unter den evangelischen Kirchen in Oberbayern. Ich liebe dieses Kirchlein. Und auch den Weg dahin. Der Weg gehört dazu. Und dann ankommen in dieser heimeligen Kapelle, in der "Schokoladenkirche", mit dem Weihnachtsfenster und der Krippe, und spüren: Jetzt bist du da. Hier ist Bethlehem für dich. Ein Bethlehem-Moment.

Seit ein paar Jahren gibt es in Hohenfried einen schönen Dreikönigsbrauch: Eine Waldweihnacht, zu der der junge Pfarrer dort einlädt. Waldweihnacht, das kenn ich auch aus früheren Gemeinden in denen ich Pfarrer war: Man trifft sich draußen unter freiem Himmel, im Wald, an einem besonderen Ort. Kleine und große Kinder, warm angezogen mit Stiefeln, dicker Jacke, Schneeanzug. Einige tragen Fackeln, andere haben eine Laterne. Man geht zusammen einen Weg, bleibt mal stehen, hört eine Geschichte. Auch die von der Geburt von Jesus in Bethlehem und von den Heiligen drei Königen. Ein Posaunenchor spielt. Alle singen noch einmal Weihnachtslieder. Und dann – gibt’s Punsch und Kakao und Plätzchen für die Kinder und Glühwein für die erwachsenen Kinder. Und damit auch die Tiere satt werden, haben manche Kinder Sterne aus Vogelfutter dabei oder Nüsse für die Eichhörnchen.

Ankommen

Eine Waldweihnacht hat ein Ziel, zu dem man unterwegs ist: Eine Krippe, die im Wald aufgebaut ist, ein Krippenspiel oder auch ein Feuer. Ein Ort, der symbolisch für den Ort von Weihnachten steht: Bethlehem. Zur Waldweihnacht gehört das Draußen-Sein, unterwegs sein, das Gehen … und dann: Ankommen – finden – sich verwandeln lassen, ein Bethlehem-Moment. Ich stehe da wie als Kind und sehe die Kerzen und Fackeln leuchten, und die Augen der anderen. Und in mir selbst leuchtet auch was … 

Gott hat ein helles Strahlen in unsere Herzen gegeben, so dass wir das Leuchten der Gegenwart Gottes im Angesicht des Messias Jesus erkennen. (2Kor 4,6 BigS)

Genial. So wenige Worte, so viel Leuchten. So fasst die Bibel in Worte, was ich Bethlehem-Moment nenne: Ein helles Strahlen im Herzen, Ich bin ganz da. Gott ist ganz da.

 "Kommt, gehen wir nach Bethlehem…"Dazu inspirieren mich die ersten Besucherinnen und Gäste an der Krippe Jesu, die Hirten…. Ein Engel hat ihnen vorher etwas Wunderbares und Großes erzählt: Ein Gotteskind ist geboren! Es stillt die Sehnsucht aller Menschen. Und die Hirten gehen los. Sie wollen selbst dabei sein, die Geschichte "sehen", persönlich berührt werden. 
Etwas Ähnliches erzählt die Bibel von anderen ersten Besuchern an der Krippe. Die Tradition nennt sie "Heilige drei Könige". Magoi heißen sie im griechischen Urtext. Königliche Magier heißen sie in der Bibel in gerechter Sprache. Auch sie haben von der Geburt eines besonderen Kindes gehört. Ein Königskind. Der neugeborene König der Jüdinnen und Juden. Doch die bloße Information reicht ihnen nicht. 

Als Jesus in Betlehem in Judäa geboren war, in den Tagen des Königs Herodes, seht, da kamen königliche Magier aus dem Osten nach Jerusalem. Sie sagten: "Wo ist der neugeborene König des jüdischen Volkes? Wir haben seinen Stern im Osten aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen."  … Herodes schickte sie nach Betlehem und sagte: "Geht! Stellt genaue Nachforschungen über das Kind an. 
Als sie das vom König gehört hatten, brachen sie auf. Und seht, der Stern, dessen Aufgang sie beobachtet hatten, zog vor ihnen her, bis er ankam und über dem Ort stillstand, an dem das Kind war. Als sie den Stern dort sahen, waren sie überwältigt vor Freude. 

Die königlichen Magier sind einen langen Weg gegangen. Auch sie wollen es selber sehen und erleben. Ob das wahr ist… was sie wohl finden werden …. Ob sie überhaupt ankommen…. Sie gehen los. Und sie gehen und gehen … kommen an. Sie erleben ein helles Strahlen. Gottes Gegenwart leuchtet. In einem Stern und: im eigenen Inneren, im Herzen und weit darüber hinaus. Und das Leuchten im Herzen hat mit diesem Kind zu tun, mit Jesus. 

Was Bethlehem bedeutet

Bethlehem ist ungefähr zehn Kilometer von Jerusalem entfernt. Der Name der Stadt ist hebräisch und heißt eigentlich, Haus des Brotes, Brothausen. Nach einem anderen hebräischen Wort könnte es auch Haus des Kampfes heißen, Kampfhausen. Ein Ort, der für beides steht: Brot für Leib und Seele – und der Kampf.

Bethlehem ist schon in der Bibel eine Chiffre, ein Symbol für erfüllte Sehnsucht. Die Stadt ist Heimatort von König David. Und der wird im Lauf der Geschichte Israels zu einer großen Hoffnungsgestalt. Ein Retter in der Zukunft – das muss dann ein neuer David sein. Der Gesalbte, der Messias, hebräisch der Christus. Und der Gesalbte kommt natürlich auch aus der Stadt Davids, aus Bethlehem.

Erschrecken Sie jetzt bitte nicht: Es gibt viele Theologinnen und Forscher, die sagen: Jesus ist gar nicht in Bethlehem geboren. Und ja: es gibt gute Gründe dafür. In den ältesten Schichten des Neuen Testaments ist von Bethlehem nicht die Rede. Jesus kommt aus Nazareth, das ist klar, und hat dort wohl die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Die Überlieferung, dass er in Bethlehem geboren sein soll, ist vergleichsweise jung. Und die historischen Angaben in den Weihnachtsgeschichten – Kaiser Augustus, König Herodes, die Volkszählung, ein Quirinius Statthalter in Syrien, ein besonderer Komet – das alles ist nach heutiger Wissenschaft, "historisch" betrachtet, ziemlich widersprüchlich. Na und?

Es gibt gute Gründe zu sagen: Die Weihnachtsgeschichten der Bibel sind Poesie. Dichtung. Sind sie dann wahr? Für mich sind sie wahr. Die Wahrheit von Religion ist eine ganz andere als die Wahrheit heutiger Wissenschaften. Sie ist größer, tiefer… und leuchtet. Im Herzen. Und das Leuchten im Herzen kommt aus dieser Geschichte von Bethlehem, egal ob Jesus dort oder anderswo geboren wurde.

Ich persönlich war noch nicht in Bethlehem oder Jerusalem. Ich will da aber mal unbedingt hinreisen. Das Heilige Land interessiert mich. Aus Berichten und Bildern weiß ich schon einiges darüber. An der Stelle, an der Jesus vermeintlich geboren wurde, hat man im 4. Jahrhundert die Geburtskirche errichtet, die bis heute eine der ältesten Kirchen der Christenheit ist. Tausende Pilger besuchen sie jedes Jahr. Die eigentliche Geburtsgrotte befindet sich im Untergeschoss dieser Kirche. Da ist einen vierzehn-zackiger silberner Stern in den Steinboden eingelassen, dicht darüber hängen viele Leuchten. Und dieser Stern markiert den vermuteten Ort: Hier soll Jesus geboren sein. 

Es gibt auch eine evangelisch-lutherische Kirche in Bethlehem, nicht an der Geburtsstätte. Und sie heißt trotzdem: Weihnachtskirche. Und allein ihre Existenz und ihr Name sagen mir: Das Strahlen im Herzen ist nicht an einen einzigen Ort gebunden.

Menschen, die nach Bethlehem und zur Geburtsgrotte pilgern, berichten mir ganz Unterschiedliches. Manche sind tief berührt. Andere sind abgestoßen, vom Pilgertourismus und von den politischen Konflikten drumrum.

 Bethlehem ist für Juden und Christen, aber auch für Muslime ein religiöses Symbol. Der Prophet Mohammed soll hier gebetet haben. Die Stadt ist heute hauptsächlich muslimisch und nur weniger als 20 Prozent der Bevölkerung sind Christen, viele sind ausgewandert, zum einen weil sie als Christen diskriminiert wurden, zum andern weil die Wirtschaftslage nicht gut ist. Bei der Stadtverwaltung von Bethlehem, lese ich, gibt es eine Besonderheit: Der Bürgermeister und sein Stellvertreter müssen Christen sein. Die große muslimische Mehrheit kann zwar Vertreter in den Stadtrat wählen, das Stadtoberhaupt kann sie nicht stellen. Das sorgt immer wieder für Ärger.

Politik und Religion

Welche Rolle spielt die Religion von Politiker*innen? Eine Frage, die uns in unserem Land auch beschäftigt und nicht erst seit der Ampelkoalition. Ich erwarte von einer Politikerin nicht, dass sie Christin oder Kirchenmitglied ist, auch wenn ich das natürlich wärmstens empfehle. Was spricht eigentlich dagegen, dass ein aus-der Kirche-ausgetretener Mensch oder eine Muslima oder eine Jüdin Politik macht, Ministerpräsidentin wird, oder Bundeskanzlerin? Ich finde es oberflächlich, Politiker oder sonst einen Menschen bloß danach zu beurteilen, ob er oder sie Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft ist. Aber ich erwarte: Politik und Religion müssen unterscheidbar sein und bleiben.

Was wir in diesen Tagen im Iran sehen, ist genau das Gegenteil: Eine schreckliche Vermischung von Staat und Religion. Eine Religion als totalitäre Staatsmacht, die sich mit Gewalt durchsetzt und Frauenrechte, Menschenrechte und die Freiheit des Einzelnen verachtet. "La ikraha fi din" Es gibt keinen Zwang in der Religion. Dieses Gebot steht so im Koran, und ich find das ein super Gebot, das auch uns Christen, allen Religionen gut zu Gesicht steht. 

Ich denke an Russland. Auch hier wird mit Religion Politik gemacht und ein Krieg wird religiös verteidigt gegen die "sündige Werte des Westens", und letztlich auch gegen die Freiheit der Religion. La ikraha fi din – Es darf keinen Zwang – und auch keinen Krieg geben in der Religion. Und in der Geschichte unsres Landes und unsrer Kirchen gibt es genug Beispiele, wie entsetzlich Religion und Politik verknüpft waren. Religion und Politik müssen unterscheidbar sein. Bethlehem erinnert symbolisch an das Verhältnis von Religion und Politik, das immer spannungsvoll ist.

Ich find gut, wenn in diesen Tagen die Sternsinger das Bundeskanzleramt besuchen. Die Botschaft der Sternsinger ist entlastend, gerade für Politiker:innen: Das Heil der Welt, die Rettung des Menschen kommt nicht aus dem Berliner Reichstag, nicht aus Brüssel, nicht aus der bayerischen Staatskanzlei oder aus einer irgendeiner bestimmten Partei, sondern aus einer Welt, die nicht von dieser Welt ist und für die Bethlehem ein Symbolname ist. Das ist auch ein Bethlehem-Moment…

Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben, so gib, dass wir im festen Glauben nach deiner Macht und Hülfe sehn! So heißt es in einer Musik von Johann Sebastian Bach zum heutigen Fest. Religion schnaubt nicht, nicht einmal gegen ihre Feinde, sie behauptet sich nicht mit Macht oder Gewalt gegen andere. Religion vertraut auf das Leuchten der Gegenwart Gottes, auf seine Macht und Hilfe.

Den inneren Weg nach Bethlehem gehen

Der Feiertag heute ist für mich geschenkte Zeit, Me-Time. Zeit, um nochmal zu fragen: Wo könnte dein Bethlehem heute sein? Wo könntest du heute finden, was dein Herz leuchten lässt? Wo leuchtet dir heute Gott auf? Ich habe mehrere Orte, an denen ich rund um Weihnachten Bethlehem-Momente erlebe. In der Heiligen Nacht ist es eine Christmette, die ich als Pfarrer gestalte; in einer kleinen Kirche mit alten Holzbänken, nur mit Kerzen erleuchtet und mit den Lichtern am Christbaum. Heimelig. Auf diese Mette freue ich mich jedes Jahr sehr. Sie erinnert mich an meine Bethlehem-Momente als Kind. 

Heute möchte ich in jedem Fall noch raus, wandern, spazieren gehen, mich bewegen, vielleicht noch in eine Kirche oder ein Konzert oder – eine Waldweihnacht. Ich will noch einen Bethlehem-Moment erleben. In jedem Fall: Gehen, mich bewegen. Und Gehen ist nicht nur Fitness und Bewegung, sondern etwas Spirituelles.

 Das äußere Gehen bringt mich auch zum inneren Gehen. Ich frage mich: Wohin gehe ich gerade – in meinem Leben? Wie geht es mir? Sicher anders als letztes Jahr um die Zeit. Anders als vor zehn oder 20 Jahren oder damals als Konfirmand auf den verschneiten Winterwegen. Ich lebe mit anderen Menschen, mit anderen Lebensthemen und auch meine Spiritualität verändert sich immer wieder. Wie geht es mir, wenn ich an die aktuellen Krisen denke? Krieg, Klimawandel, Krankheiten…  Ich spüre Ängste in mir. So viele Fragen sind offen. 

In Bethlehem kannst du ankommen, wenn du beide Wege gehst: den äußeren Weg in dein persönliches Bethlehem und den inneren Weg in dich. Ja, das kann anstrengend sein, dieser innere Weg, dieses innere Suchen, dieses Fragen Wie geht es dir eigentlich in deinem Leben…? Mach‘s trotzdem. Gott gibt ein helles Strahlen in dein Herz, du wirst das Leuchten seiner Gegenwart finden. Lauf los. 

Vom Loslaufen singt ein wunderschönes Lied aus Venezuela: Adorar al nino corremos pastores. Schau, da laufen die Hirten … und da läuft dein Herz… 

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags um 10.05 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Das Sonntagsblatt veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.