Gold, Weihrauch, Möhre….

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, 
eines meiner Lieblingserlebnisse zum heutigen 6. Januar ist schon ein paar Jahre her. Ich unterrichte Religion in der 6. Klasse Gymnasium. Thema: Das Kirchenjahr. Die Aufgabe: Schreibe deinem Freund Max, was am 6. Januar gefeiert wird.  Und das haben die Schülerinnen geschrieben. "Lieber Max, wie geht’s? Am 6. Januar ist das mit den Königen. Das hat was mit Jesus zu tun und Gold und Weihrauch und Möhre.”  Ein Junge schreibt: "Hallo Max, der 6.1. nennt sich Efipanis. Näheres dazu erfährst Du in unserem Reli-Buch, in das ich gerade nicht reinschauen kann.”

Und ein anderer Junge: "Keine Ahnung. Das Fest heißt glaube ich Trinitatis. Ich bin evangelisch und wir feiern diesen Tag."
Ich habe Spaß beim Korrigieren! Aber ich merke auch: Ich hab die Schüler richtig kalt erwischt, was mir irgendwie Leid tut.

Klar, es gibt richtige Antworten: Der 6. Januar ist das Fest der Erscheinung des Herrn. Epiphanias, mit p und ph. Meinetwegen auch Heilige-Drei-Könige oder Dreikönigstag – auch, wenn es sich eher um Sterndeuter, Astrologen handelt. Vielleicht auch zwei oder vier, die Bibel nennt gar keine Zahl – und vielleicht sind auch Frauen dabei, Sterndeuterinnen, Wissenschaftlerinnen. Diese geheimnisvollen Menschen folgen einem Stern, entdecken das Jesuskind, beten es an und bringen Gold, Weihrauch und Myrrhe. Myrrhe mit Ypsilon und 2 r und h.

Was hat dieses Fest am 6. Januar mit meinem Leben zu tun?

Wir haben das alles im Unterricht durchgenommen; man kann es auswendig lernen, hinschreiben und womöglich später wieder vergessen. Aber die entscheidende Frage ist eine andere: Was hat dieses Fest am 6. Januar mit mir, mit meinem, mit unserem Leben zu tun? Wir lesen in der Klasse noch einmal die Geschichte aus dem Matthäusevangelium, von den weisen Frauen und Männern aus dem Morgenland, sie bringen Geschenke, Gold, Weihrauch, Myrrhe und vielleicht auch eine Möhre, und dann heißt es: sie fallen nieder und beten das Kind an. 

"Was ist denn das…. anbeten?"

Ein Schüler meldet sich und fragt: "Was ist denn das … anbeten"? Ich stutze kurz – wie erkläre ich das? – und mir fällt spontan ein Lied ein, das wir dann singen. Herbei o ihr Gläubigen, mit dem Refrain: O lasset uns anbeten. Viele können schon ein bisschen Englisch und singen "O come, let us adore him". Ein paar können Latein und wollen es in der Ursprache singen: "Adeste fideles". In jeder Sprache machen wir die Erfahrung: Wir singen, und schon ist da was: Weihnachtsfeeling. Eine positive Energie. Und wir sind mittendrin, im Anbeten…

Dieses Lied gehört zu meinen Lieblingsliedern. Wenn ich das höre oder mitsinge, dann ist für mich Weihnachten, auch heute, am 6. Januar. Es erinnert mich an meine Kindheit und an meine Zeit als Konfirmand: Unser Pfarrer hat es lauthals und begeistert gesungen. Ich denke an meine Mutter: Es war auch ihr Lieblingsweihnachtslied und das ist schon früh auf mich übergesprungen. Vor 3 Jahren ist meine Mutter gestorben, aber wenn ich an Weihnachten das Adeste fideles höre oder singe, stelle ich mir vor: Dort, wo sie jetzt ist, singt sie mit. 

Ich denke an die Christvespern, die ich vor der Pandemie in einer übervollen Münchner Innenstadt-Kirche gehalten habe. Was für ein Sog, was für eine Energie ist das, wenn über tausend kleine und große Menschen einstimmen und schmettern: O lasset uns anbeten. Oder auch in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kapelle im Seniorenstift am Heiligen Abend. Bewohner*innen, Pflegekräfte, Besucher. Fitte und sehr kranke Seniorinnen nebeneinander. Manche sprechen schon lange kaum mehr. Doch dieses Lied bewegt und verbindet alle. Und wer nicht singen kann, klatscht oder klopft den Takt auf dem Rollstuhl oder Rollator. Die einen lächeln, die anderen haben Tränen der Rührung in den Augen. Das alles ist auch "anbeten", ergriffen sein, so wie jede und jeder gerade kann. 

Bei diesem Lied denke ich auch an Treffen mit Freunden auf Weihnachtsmärkten, wie zuletzt vor zwei Jahren am Pink-Christmas in München. Es ist kalt, wir stehen mit Schals, Mützen und Lederjacken eingepackt da, trinken eine Tasse Glühwein oder auch schon die zweite, wir unterhalten uns, lachen, umarmen uns, erzählen. Die meisten sagen, sie haben mit Religion nichts zu tun, sind auch schon lang aus der Kirche ausgetreten. Aber wenn dann aus dem Lautsprecher Ella Fitzgerald singt: Oh come all you faithful, dann beginnt einer zu summen und der nächste summt mit. Etwas Heiteres, Festliches ist auf einmal in der Luft, und die Gespräche werden anders, persönlicher, sensibler. 

In allen Ups and Downs eines Lebens kann ein Weihnachtslied eine Konstante sein

Ich bin sicher, Sie kennen das auch, liebe Hörerinnen und Hörer: Manche Weihnachtslieder gehören einfach zum eigenen Leben dazu. Alle Jahre wieder erklingen sie und berühren uns. Die Geschichten unseres persönlichen Lebens hängen an ihnen.

In allen Ups and Downs eines Lebens kann ein Weihnachtslied eine Konstante sein, eine klingende Heimat, die ich mitnehme, von einem Lebensabschnitt zum nächsten. Und so wird ein Lied Teil des roten Fadens der eigenen Lebensgeschichte. Und der Geschichte, die ein Mensch mit Gott hat.

Ein Lied öffnet den Himmel…

Ich habe mal von einer Pfarrerin gelesen, Petra heißt sie und sie ist heute kurz vor dem Ruhestand. Sie wurde nach ihrem Lieblingsweihnachtslied gefragt und sie erzählt: Fünf Jahre ist sie, als sie mit ihren Eltern die Weihnachtszeit in London verbringt… "In einer Kathedrale sang ein Chor das Lied "Oh come all ye faithful", und ich dachte, dass sich gleich der Himmel über uns öffnen würde. Da berührte mich etwas, das mich bis heute begleitet. Vielleicht bin ich auch deshalb Pastorin geworden."

Da geschieht etwas in einem Leben durch ein Lied. Da sagt jemand: Was ich geworden bin, wurde ich auch durch dieses Lied. Diesen Zusammenhang von Weihnachten, Glauben und Pfarrberuf kenne ich auch aus meinem Leben: Mein eigener Weg als Gottsucher, als Christ, als Pfarrer hat ganz viel mit Weihnachten zu tun. Und Weihnachten heißt für mich auch: Dieses Lied singen: O lasset uns anbeten.

Mag sein, dass der Text nicht so gehaltvoll ist wie bei anderen Weihnachtsliedern. Aber die Melodie macht etwas mit einem oder einer. Sie macht, wovon die wichtigsten Worte sprechen: Adeste: Sei jetzt ganz da. Sei da vor Gott. Staune und freu dich. Wenn du das singst, bist du drin: in der Haltung eines Menschen, der anbetet. Und in einer großen Gemeinschaft.

Paul Claudel und Adeste fideles

Eine andere ganz persönliche Geschichte mit diesem Lied hat der Schriftsteller und Diplomat Paul Claudel. Er erinnert sich an ein Weihnachten als er achtzehn war. 

"Meine Familie war indifferent, ich selbst völlig glaubensfremd, hatte vollkommen die Religion vergessen und befand mich in der Unwissenheit eines Barbaren. So war mein Zustand, als ich mich Weihnachten 1886 nach Notre Dame de Paris begab. Da vollzog sich das Ereignis, das mein ganzes Leben beherrscht. In einem Augenblick wurde mein Herz berührt, und ich glaubte mit einer solchen Hingabe, dass seither alle Wechselfälle meines Lebens meinen Glauben nicht erschüttern, ja nicht einmal berühren konnten. Es ist wahr! Gott existiert. Er ist da, ein persönliches Wesen wie ich – er liebt mich, er ruft mich. Tränen waren über mich gekommen, und der sanfte Gesang des Adeste fideles trug noch zu meiner inneren Erregung bei." (1)

Einer der ersten Orte, wo das Lied gesungen wurde, war keine große Kirche, sondern ein Versteck: Ein nicht-öffentlicher Raum in der portugiesischen Botschaft in London. Das war lange Zeit der einzige Ort, an dem sich Katholiken im ansonsten anglikanischen England zum Gottesdienst treffen konnten. Sonst war der katholische Glaube verboten und wurde teils blutig verfolgt. Wer seinen Glauben leben wollte musste fliehen, übers Meer, Richtung europäischem Kontinent. Und dabei sind nicht wenige unterwegs umgekommen.

"Adeste fideles" ist ursprünglich das Lied von Verfolgten

Einige von denen, die überlebt haben, finden in Nordfrankreich ein neues Zuhause, lernen dort John Francis Wade kennen, einen Notenschreiber, singen ihm ihr Lied vor. Und er schreibt es auf. 

"Adeste fideles" ist also ursprünglich das Lied einer verfolgten Minderheit. Eine klingende Heimat für Frauen und Männer, die ihr Zuhause verlassen mussten wegen ihres Glaubens. Die ersten, die mit diesem Lied "anbeten", sind Flüchtlinge, politisch und religiös verfolgte Menschen; für sie ist es Balsam auf der Seele, wenn sie hören und singen: Herbei, ihr mit eurem Glauben, den niemand richten darf! Herbei, kommt einfach her, seid da. Es gibt einen Platz, an dem ihr sein dürft. Und es ist dann ein Student, Anfang 20, ein Protestant in Bayern mit Namen Friedrich Heinrich Ranke, ein Mensch mit einer bewegten Jugend und einigen Bruchstellen im Leben. Er lernt dieses Lied kennen und überträgt es ins Deutsche: Herbei o ihr Gläubigen. 

Mich bewegt das, wie dieses Lied durch verschiedene Kulturen, Zeiten und Lebensgeschichten gewandert ist. Und wie es weiter wandert in die nächsten Generationen. Eine Klangheimat für viele. An Weihnachten fühlt sich meine Seele zu Hause in diesem Lied. Es ist wie eine Kniebank für Stimme, Herz und Seele. Eine Kniebank, auf der ich das Kind, den Christus, anbeten kann.

Welches Weihnachtslied tut Ihrer Seele besonders gut, lieber Hörerin, lieber Hörer? Ich bin sicher, Sie haben auch Ihr persönliches Herzenslied, in dem sich Ihre Seele zu Hause fühlt.

Der Feiertag heute ist noch einmal eine gute Gelegenheit, unsere Herzens- und Seelenlieder zu singen oder anzuhören, und so: Staunen und anbeten wie die Weisen aus dem Morgenland. 

Ein Herzensweihnachtslied finde ich auch in der Bibel, gleich am Anfang des Johannesevangeliums. Johannes kennt wahrscheinlich die Geschichten der anderen Evangelien, von der Geburt Jesu im Stall, von Hirten und Engeln, von Weisen und der heiligen Familie. Das alles muss er nicht nochmal erzählen. Statt mit einer Erzählung oder einem Stammbaum beginnt er sein Evangelium mit einem alten Lied. Und ich stelle mir vor: Es ist sein Lieblingslied, das ihn berührt, bewegt, an dem Geschichten seines Lebens hängen. Hören Sie…

 Im Anfang war Sophia, und Sophia war bei Gott, und Gott war Sophia.
Sophia war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch Sophia gemacht, und ohne Sophia ist nichts gemacht, was gemacht ist. (Joh 1,1-3)

Wunderschön und poetisch, dieses Lied. Bloß: Wer ist denn die Sophia? Dazu lese ich: Jüdinnen und Juden haben sich vorgestellt: Gott ist nicht einsam und allein für sich Gott. Es war schon immer jemand bei Gott dabei. Eine Art Person, die Gott ganz nahe ist. Und die gleichzeitig ganz nah bei den Menschen ist. Sozusagen eine Verbindungsperson zwischen Gott und den Menschen. Diese Person hat verschiedene Namen. "Logos" steht im griechischen Urtext der Bibel, das heißt dann oft: "Im Anfang war das Wort." In der Bibel ist diese Person auch weiblich, "Frau Weisheit", und griechisch heißt das dann "sophia". Eine besondere, geheimnisvoll-eigenartige Gestalt, diese Sophia, diese Frau Weisheit, die da ganz bei Gott ist und gefühlt auch ganz bei den Menschen.  Johannes dichtet eine eigene Strophe dazu:

Und Sophia, das Wort, ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit….  Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Mit der Geburt Jesu ist Sophia, Frau Weisheit, ein richtiger Mensch geworden. Das Wort wurde Fleisch, so singt es das berühmteste Weihnachtslied des Christentums. Das Wort wurde in Jesus ein Mensch. Gott wohnte und wohnt unter uns in Jesus. Und von diesem Menschen aus Fleisch und Blut, von Jesus Christus, ist etwas ausgegangen. Gnade, Fülle, Wahrheit. Eine positive Energie, die unter uns wirkt und spürbar ist. 

Singen für die Seele

Man muss das wirklich singen, liebe Hörerinnen und Hörer. Wir kennen heute die Melodie nicht, die vielleicht Johannes im Ohr hatte, als er diese Liedstrophen aufgeschrieben hat. Aber klar ist: Wir hören und lesen einen Hymnus. Ein Lied, auf das Wunder von Weihnachten. Und ein Lied will nicht erklären. Genauso wie ich ein Wunder nicht erklären kann. Ein Lied hilft staunen, sich freuen, Danke sagen und auch anbeten.

Ein Lied darf ganz einseitig sprechen, und die Weihnachtslieder tun es fast alle. Sie reden von Gott und dem Leben, als ob es keine Zweifel gäbe. "Wir haben Gnade empfangen. Die Welt ist gut und unser Leben ist es auch". Könnten Sie das so sagen, liebe Hörerinnen und Hörer, "alles ist gut"? Ich jedenfalls kann das nicht sagen. Ich sehe, wie wir alle unter der Pandemie leiden; wie sich unsere Gesellschaft spaltet und der Ton immer aggressiver wird. Wir streiten über Impfpflichten, während in anderen Erdteilen Menschen in noch größeren Zahlen sterben, weil kein Impfstoff da ist. Ich sehe, dass der Klimawandel voranschreitet, unsere Politik hinterherhinkt, und wir uns eigentlich nicht wirklich einschränken wollen. Sobald wir können, reisen und konsumieren wir wieder wie die Weltmeister. Ich sehe, wie wir uns in unserem Reichtum einigeln und wie viele Notleidenden an den Zäunen Europas hängen gelassen werden. "Wir haben Gnade empfangen, die Welt und das Leben sind gut?" Ich weiß nicht so recht.

Mich beschäftigen vor allem die seelischen Inzidenzen: Kinder und Jugendliche, erwachsene Frauen und Männer, vor allem Singles und allein Lebende leiden. Für so viele Menschen sind die letzten zwei Jahre eine schwere psychische Belastung. Die Pandemie hat über viele Seelen einen grauen Schleier gelegt. Die Diagnose Bornout und Depression nimmt zu.

Ich selbst bin vollständig geimpft und geboostert, Impfen ist für mich unumgänglich. Trotzdem setzt mir die vierte Welle zu, die Beschränkungen, dieses dauernde Gefühl von Unsicherheit. Das tut der Seele nicht gut.

Weihnachtslieder sind Seelenbooster. Sie stärken die Abwehrkräfte meiner Seele. Sie sind voll positiver Energie. Sie singen von einem großen Ja zum Leben. Sie singen mir etwas in Herz und Verstand, was einem in Pandemiezeiten leicht verloren gehen kann: Das Vertrauen, dass Gott es gut mit uns meint. Dass es gut ist und wird mit meinem Leben, mit den Menschen um mich herum und mit der Welt. Die grauen Schleier über der Seele haben nicht das letzte Wort. Aus seiner Fülle haben wir Gnade empfangen, singt Johannes in seinem Lieblingslied. Und wir können unsere Herzenslieder singen. Vielleicht gerade, wenn das Herz eher leer, traurig oder unsicher ist. Die Lieder bringen die Seele in Bewegung. Sie lassen mich hoffen, dass doch noch vieles heil wird. Klangheimat und Seelenbooster sind unsere Weihnachtslieder. Ich glaub, wir können sie gar nicht oft genug singen und hören.

Für meine Sechstklässler, von denen ich Ihnen erzählt habe, und für die Aufgabe "Schreib deinem Freund Max, was der 6. Januar bedeutet" würde meine Musterlösung heute so lauten: 
"Lieber Max, am 6. Januar ist Epiphanias. Wir Evangelischen feiern das. Jeder singt heute sein Lieblingsweihnachtslied. Ich hab mir "Oh come all you faithful" ausgesucht. Was ist dein Lieblingslied? Und wir tun uns heute was Gutes, weil immer noch Weihnachten ist. Und weil Jesus geboren ist und es gut mit uns meint. Und unser Hase kriegt eine Möhre extra. Unser Reli-Lehrer hat gesagt: Heute boostern wir die Seele. Tschüß, Dein Flo." 

 (1) Geistliches Wunderhorn, S. 438

Literatur: 
https://www.shz.de/lokales/husumer-nachrichten/wenn-ein-lied-den-himmel-oeffnet-id18649106.html, Zugriff am 20.12.21, bearbeitet von F.I.
Hansjakob Becker, Auf, gläubige Seelen, in: Geistliches Wunderhorn. Große Deutsche Kirchenlieder, herausgegeben von Hansjakob Becker u.a., München 2003 (2. Auflage), 437-444.