Aufstehen oder liegenbleiben?
Ich bin so knallvergnügt erwacht./ Ich klatsche meine Hüften./ Das Wasser lockt. Die Seife lacht./ Es dürstet mich nach Lüften. Wie sind Sie heute morgen aufgewacht? Knallvergnügt, voller Lebenslust und Lebensdurst, wie Sie’s gerade von Joachim Ringelnatz gehört haben – oder eher so, wie die Gruppe Karat vor vielen Jahren mal gesungen hat: "Manchmal bin ich schon am Morgen müd..."?
Es kommt darauf an, wann man am Abend zuvor ins Bett gegangen ist. Und es kommt vor allem darauf an, wie sich das Leben gerade anfühlt: leicht und beschwingt, wie frisch verliebt in einen Menschen oder frisch belebt durch einen erwachenden Frühlingstag? Oder eben doch mühsam, weil es so vieles gibt, was sich wie eine bleierne Decke auf das Leben legt, einen schwer macht und unbeweglich. Ganz persönliche Situationen können das sein, über die man gar nicht mehr viel reden will: Da muss man sich ständig mit der Kollegin herumärgern, das Älterwerden ist mühsam, und der Schmerz, dass ein Mensch, der Teil des eigenen Lebens war, nicht mehr da ist, will einfach nicht vergehen. Die ganz alltäglichen Ungerechtigkeiten gehören dazu, das Gefühl, dass die eigene Arbeit nicht gesehen oder jemand anders besser beurteilt wird – oder dass ich mich hilflos fühle, wenn Menschen, die mir nah sind, zu kämpfen haben und ich nicht viel tun kann. Und die beängstigenden politischen Entwicklungen, die einem aus den Zeitungsschlagzeilen entgegenknallen. Manche Menschen werden dadurch auf die Straße getrieben – andere versinken wie gelähmt in ihrem Sessel oder vor dem Bildschirm… Ich fühle mich hin- und hergerissen zwischen dem Impuls: da muss man doch was tun können – und einer resignierten Stimme, die mir sagt: Was soll man denn noch machen?
Da kommt mir ein Bibeltext gerade recht, in dem einer redet, der offensichtlich auch beides kennt: dieses Wachsein am Morgen für alles, was ihn unmittelbar angeht, was er hört und wovon er reden will – und die Müdigkeit und Mühsal des Lebens…
Ein Morgenlied
Gott, der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Götter, der Herren haben mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott, der Herr, hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? (Jes 50, 4-9)
Knallvergnügt klingt das nicht. Aber es macht mich neugierig. Wer ist das eigentlich, der hier redet? Und könnte der mich genauso in meinen Tag begleiten wie Joachim Ringelnatz mit seinem Morgengedicht? So unterschiedlich diese beiden Texte klingen, sie haben etwas gemeinsam: beides sind Gedichte, poetische Formen. Die Theologen nennen den Text, den wir gerade gehört haben und noch drei andere aus dem Buch des Propheten Jesaja "Gottesknechtslieder".
Was einen aufweckt
Der, der da redet, hört erstmal hin. "Ich bin nicht ungehorsam", sagt er von sich…. Wenn ich dieser vertrauten Übersetzung Martin Luthers nachhöre, dann fällt mir auf, dass im Wort "gehorsam" das Hören drinsteckt. Es geht also nicht einfach um blinden Gehorsam. Es geht ums Aufmerksam sein, ums Hinhören auf das, was Gott sagt. Und zwar nicht irgendwann und zufällig mal. Sondern gerade am Morgen, wenn die Sinne noch nicht betäubt sind vom Lärm des Tages.
Wenn ich überlege, wer mir jeden Morgen das Ohr weckt, dann fällt mir die Amsel ein, die seit ein paar Wochen endlich wieder singt. Für die Schlaflosen ist Vogelgesang am frühen Morgen manchmal schwer auszuhalten, weil sie dann merken: es wird hell - und ich habe immer noch kein Auge zugetan. Meine Amsel aber schafft es, mich jeden Morgen um zwanzig nach fünf aus dem Schlaf zu holen. Und jedes Mal, wenn ich ihren Gesang höre, lausche ich mit ihr gemeinsam, ob ihr Rufen eine Antwort findet – und freue mich, wenn ich dann, mit geöffneten Ohren sozusagen, hören kann, wie die Amselgefährtin ein paar Häuser weiter antwortet. Ich habe dann für einen Moment das Gefühl, dass meine Welt wenigstens am Morgen ihren Rhythmus und ihre Ordnung hat, weil da ein Amselpaar sich zusingt.
Der, der dieses Lied geschrieben hat, der stellt sich vor, dass er wie ein Schüler ist, der bei Gott selbst in die Schule geht. Auch ein Schüler ist am Morgen womöglich am aufnahmefähigsten. Hören und reden gehören für ihn zusammen. Wer die Gottesknechtslieder in dem Zusammenhang liest, in dem sie im biblischen Jesajabuch gestellt sind, wer also mit den Ohren dessen hört, der hier redet, der weiß, was Gott sagt. "Fürchte Dich nicht, ich habe dich bei deinem Nahmen gerufen. Du gehörst zu mir", sagt er zum Beispiel. Oder: "Hört mir zu, ihr, die ihr mir von Anfang an aufgeladen seid. Ich habe es getan und ich werde es weiter tun: ich will heben und tragen und retten." Heilsworte, Heilsbotschaften von einer Welt, die für Menschen geschaffen worden ist und von einem Gott, der sich dieser Welt und diesen Menschen unablässig zuwendet. Solche Worte können ein ganzes Leben umspannen und umfassen. Ich kenne viele Menschen, die die Zusage Gottes, dass er sie beim Namen ruft und dass sie zu ihm gehören, was immer auch geschieht, als Taufspruch bekommen haben und sich ihr Leben lang daran festhalten.
Wach sein und widerstehen
Gegeben hat Er, mein Herr, mir eine Lehrlingszunge; am morgen weckt er das Ohr mir, dass ich wie die Lehrlinge höre…. So übersetzt Martin Buber den Anfang dieses Liedes. Und plötzlich kommt mir dieses uralte Lied ganz nahe. Ich sehe sie vor mir, all die kleinen Lehrlinge, die, die eine Zukunft haben wollen in unserer gemeinsamen Welt und die viel genauer hinhören als die Großen, die scheinbar schon alles wissen. Manche in Latzhose und Gummistiefeln, manche mit Pudelmütze und mit dicken Schals um den Hals. Sie tragen Schilder, auf denen steht: "There is no Plan(et) B!" Und sie skandieren gemeinsam: "Wir sind jung, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!" Angeführt werden sie von einer 16jährigen Schwedin, die mit ihrem ernsten und fast unbewegten Gesichtsausdruck dafür steht, dass diese Welt, in der sie leben will, zu kostbar ist um sie denen zu überlassen, die sie ausnutzen und ausschöpfen. Man könnte sie für eine Unheilsprophetin halten. "Ich will, dass ihr in Panik geratet, wie ich in Panik bin." hat sie neulich Politikern gesagt. Für mich verkörpern sie und die Kinder und Jugendlichen, die sich ihr angeschlossen haben, im wahrsten Sinn des Wortes die Zukunft, Gottes Zukunft für diese Welt. Es ist, als hätten sie mit ihren kleinen Ohren etwas gehört, wofür die Erwachsenen taub geworden sind.
Freilich, wer Erwachsene aufwecken will, der hat selbst viel Widerstand auszuhalten. Womöglich ist Greta auch deshalb das Gesicht dieser Freitagsdemonstrationen geworden, weil sich an diesem Gesicht so eindrucksvoll ablesen lässt, wie die junge Frau Anfeindungen und Spott erträgt. Mit stoischer Miene lässt sie alles an sich abprallen, was gegen sie vorgebracht wird. Verspottet und gedemütigt werden, das erleben viele Menschen, überall auf der Welt. Sie wollen leben, sie wollen eine Zukunft haben, sie wollen ihren Glauben nicht verschweigen und verstecken – und sie erleben, dass sie nicht nur durch Shitstorms im Internet, sondern körperlich bedroht, verletzt und klein gemacht werden.
Ich habe mein Angesicht hart gemacht wie einen Kiesel, sagt der Prophet. Und auf einmal kann ich in ihm einen Menschen sehen, der mir sehr nahe kommt. Er ist bedrängt und kämpft doch darum, dass sein Leid anerkannt wird. Er wird erniedrigt und hält an seiner Würde fest. Er will dem, was ihm zustößt, nicht einfach machtlos ausgeliefert sein. Er will trotz der Anfeindungen, die er erlebt, festhalten an dem, was er glaubt – und er will mit all dem etwas bewirken, will reden, damit andere verstehen, was ihn bewegt. Ich kenne ihn nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie sein Angesicht aussieht.
Ich sehe Greta vor mir und die vielen ernsten Kinder, die sich neben sie stellen. Ich sehe aber auch die junge Frau, die erzählt, was sie in ihrer Familie erlebt hat, bespuckt, geschlagen von einem Vater, der abends betrunken nach Hause kam. Sie hat sich ihm entgegengestellt, hat die Mutter geschützt und die kleine Schwester. Irgendjemand musste das tun, sagt sie. Ich habe mir nichts anmerken lassen, sagt sie – und ist doch erleichtert, dass jetzt wenigstens jemand ahnt, was sie durchgemacht hat.
Es gibt andere, die lassen sich bis heute nicht anmerken, was das, was sie erlebt haben, in ihnen ausgelöst hat. Viele, die aus Syrien, aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran zu uns kommen, haben Unerträgliches durchgemacht. Sie haben nur überlebt, weil sie sich hart gemacht haben. Und wenn sie dann hier nach dem gefragt werden, was sie erlebt haben, schützen sie sich gegen die Erinnerungen, die dadurch ausgelöst werden, genauso wie damals gegen die Schläge: auch jetzt machen sie ihr Angesicht wie einen Kiesel, lassen sich nichts anmerken. Na, der hat doch gelächelt, als er von seiner Verhaftung erzählt hat, hat mir neulich ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde gesagt. Dann kann es doch nicht so schlimm gewesen sein…
Ein Ostermorgenlied
Was hilft da ein Lied, wenn Qualen und Ängste tiefe Spuren in der Seele hinterlassen haben? Was hilft da ein Lied, wenn man eigentlich gerne von seinem Glauben erzählen möchte und von dem, was einem wichtig ist – aber manchmal macht sich das Angesicht ganz von selbst wie ein Kiesel und man bekommt nichts mehr über die Zunge. Was hilft da ein Lied?
Es hilft, die eigenen Erfahrungen in Worte zu fassen – und im Singen zu spüren: ich bin nicht alleine mit dem, was ich erlebt habe. Es ist kein Zufall, dass der Prophet seine Erfahrungen in ein Lied gefügt hat. Es lädt andere ein, sich selbst hineinzustellen in das, was er da erlebt hat. Es lädt ein, die Erfahrung, dass Gott einen anrührt und aufweckt, darin genauso auszudrücken wie die Demütigungen und das Standhalten. Dieses Lied hat einen Rhythmus, hat Worte, die den Grund legen dafür, dass einer so singen kann: Er, mein Gott, hat mir eine Zunge gegeben. Er, mein Gott, hat mir das Ohr geöffnet. Er, mein Gott hilft mir, damit ich nicht zuschanden werde. Wer so singt, der singt sich in Gottes Gegenwart hinein. Wer so singt, der erlebt im Singen, dass Gott nah ist und hilft…
Theologen, die sich mit diesem Lied beschäftigt haben, haben lange gemeint, es sei ein Klagelied. Schließlich würde dem Propheten hier doch Schweres widerfahren. Andere haben widersprochen. Nein, sagen sie, es ist ein Vertrauenslied. Da singt einer von dem, was sein Leben schwer macht – und weiß doch, dass Gott ihm nah ist. Mehr noch: zum ersten Mal in der biblischen Überlieferung werden hier Leid und Schmerz nicht als Strafe Gottes gesehen, die einen von Gott trennt. Für alle, die heute, am Palmsonntag, Gottesdienst feiern, klingt in diesem uralten Glaubenszeugnis auch die Geschichte Jesu mit. Bis hinauf nach Jerusalem ist Jesus gegangen um auch dort die Nähe Gottes zu predigen. Mit seinem Einzug in Jerusalem spitzt sich dramatisch zu, was er, der in den Spuren der Propheten das Heil Gottes für Israel predigt, aushalten muss. Jetzt jubeln sie ihm noch als Erlöser zu – bald werden sie ihn schlagen und bespucken. Und dennoch wird er sich von Gott gerufen und gehalten wissen.
Viel später haben Gläubige im Blick auf das Kreuz erkannt, dass Gott durch Leid nicht straft, sondern durch Leiden hindurch da ist und trägt… Und sie haben sich mit ihren Blicken an dem festgehalten, der vor ihren Augen so leidet wie sie – und der in seinem Leid nach Gott ruft und dessen Rufen Gott hört. "Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes…", hat Paulus diese Erfahrungen später zusammengefasst.
So einen Glauben kann man nicht machen, den kann man vielleicht nicht einmal denken. Wenn man darüber diskutiert, klingt das alles abstrakt und fern. Aber wenn man es singt, kommt es einem ganz nah. Da kann es dann klingen wie in den Spirituals der Sklaven auf den Baumwollfeldern…. Wenn ihre frommen Sklavenhalter sie sonntags mit in die Kirche genommen haben, haben sie in den Geschichten vom Leiden Jesu ihr eigenes Leid und in der Zusage Gottes, zu retten und zu halten ihre eigene Hoffnung wiedererkannt und haben in diesen Liedern eine der ganz wenigen erlaubten Möglichkeiten gefunden, von ihrem Leid zu erzählen und von ihrer Hoffnung zu singen.
Vielleicht kann man all das wirklich nur in Liedern ausdrücken. In Liedern, die mitten in allem Schweren den Morgen besingen, weil er schon den Ostermorgen ahnen lässt.
"Es wird regiert…"
Am 12. April 1938 schreibt der Dichter Jochen Klepper, heute vor fast genau 81 Jahren, in sein Tagebuch: "Weicher, glänzender Tag…Meine kleinen Osterbesorgungen für Mutter, Frau und Töchter. In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön. […] Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4.5.6.7.8, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren." … "Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, daß ich höre wie ein Jünger. Der Herr hat mir das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und gehe nicht zurück. Denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht." Er will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht, beginnt Jochen Klepper die letzte Strophe seines Liedes und beendet sie mit dem Satz: Sein Wort will helle strahlen, wie dunkel auch der Tag.
Sich mit geöffneten Ohren durch diese nächste Woche zu machen, geweckt durch eine Amsel, mit offenen Ohren für die Panik und den Protest der Kinder, mit offenen Ohren für das Schwere, von dem Menschen erzählen, mit Trostworten und Trostliedern, die nicht vertrösten, sondern Hoffnung auf ein Morgen geben… Wie kann das gehen?
Manchmal helfen mir dabei die Worte eines sehr alten Mannes. Der große Theologe Karl Barth hat am Abend des 9. Dezember 1968 wie so oft mit einem gleichaltrigen Freund telefoniert. Die beiden Männer sprechen über die dunkle Weltlage. Auf die besorgten Einwände des Freunds antwortet der alte Karl Barth: "Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn – "es wird regiert"! Es war das letzte Telefongespräch, das die beiden miteinander geführt haben. In der Nacht zum 10. Dezember stirbt Karl Barth. "Nur ja die Ohren nicht hängen lassen…". Wenn einer mit diesen Worten und mit der Gewissheit, dass Gott regiert, sterben und in seinen Ostermorgen gehen kann – dann kann ich ganz gewiss damit leben.
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