"Es geschehen noch Zeichen und Wunder!" sagt eine gängige Redensart. In ihrer derzeit sehr abgefälschten Bedeutung wird sie meist nur noch für kleine Überraschungen des Alltags verwendet. Ursprünglich meint das Wortpaar "Zeichen und Wunder" gewaltige Ereignisse aus biblischer Zeit, mit denen Gott höchstpersönlich in den Ablauf der Natur und der Geschichte eingreift. Durch "Zeichen und Wunder" offenbart er sich seinem Volk Israel. Der Auszug aus Ägypten, Urdatum des biblischen Glaubens, ist von langer Hand vorbereitet durch "Zeichen und Wunder der Ägyptischen Plagen".
Der Durchbruch am Schilfmeer schließlich ist das "Zeichen und Wunder" schlechthin: Dem wehrlosen Sklavenvolk Israel gelingt mit Gottes Hilfe der Exodus. Die hochmoderne Supermacht des Alten Orients muss tatenlos zusehen, wie Israel bei Ebbe trockenen Fußes durchs Watt flieht. Die "hochgerückten Eliteeinheiten" sinken bei der Verfolgungsjagd tief im weichen Meeresboden ein. Den Rest erledigt die zur Unzeit einsetzende Flut.
"Zeichen und Wunder" im Alten Testament
Nach biblischer Schilderung ist es dem Gott Israels durchaus einen Eingriff in den Ablauf der Natur und der Geschichte wert, wenn er sein Volk retten und seine Verheißung zum Ziel bringen möchte. Zahlreich wie Sterne am Himmel und Sand am Meer soll Israel werden und in ein Land gelangen, wo Milch und Honig fließen. Dazu müssen selbst die Gezeiten ausnahmslos ihre Terminkalender ändern, ja selbst Sonne, Mond und Sterne müssen sich Eingriffe in ihre Stundenpläne gefallen lassen.
Allenfalls helfen Heere von Heuschrecken und Hornissen, Heilige Kriege zu gewinnen. Notfalls stehen alle Gesetze der Kriegskunst Kopf. Die uneinnehmbare Festung Jericho fällt einem priesterlichen Posaunenchor zum Opfer. Ein möglichst kleiner Haufen linkischer Feierabendsoldaten, gewinnt eine der zahlreichen Entscheidungsschlachten. Der ungediente Knabe David besiegt den altgedienten Riesen Goliath. Das Gesamtpaket der göttlichen Heilsgeschichte zwischen Exodus und Landnahme ist eine durchgängige Reihe von "Zeichen und Wundern", nachzulesen von den Mosebüchern an bis tief in die Bücher der Chronik hinein, nachzuspüren in den großen hymnischen Geschichtspsalmen.
Diesen Wunden des Alten Testaments, wie sie sich am ganzen Volk Israel und "vor den Augen aller Welt" vollziehen, stehen "individuelle Wunder" gegenüber. Hochbetagte kinderlose Ehepaare erleben entgegen jeglicher menschlicher Erfahrung doch noch das Wunder der Elternschaft. Seher "machen Regen", Propheten heilen Krankheiten, Gottesmänner erwecken vom Tod. Um eines einzigen Menschen willen, dem König Hiskia zuliebe, muss der Schatten der Sonnenuhr ausnahmsweise einmal im Gegensinne des "Uhrzeigers" laufen. Um Jona, den großen Flüchter unter den kleinen Propheten, zu "führen, wohin er nicht will", wird ein "großer Fisch" angewiesen, denselben zu verschlucken, ihn drei Tage und drei Nächte im Bauch zu beherbergen und hernach auf den richtigen Weg zu spucken.
Sind die Wunder in der Bibel wahr?
Natürlich erhebt sich für geneigte und nicht geneigte Bibelleser seit je die Frage nach dem "Wahrheitsgehalt" der Wunder. Mit der platten Fragestellung "stimmt oder stimmt nicht" wird man freilich den Wundern der Bibel nicht gerecht. "Wahr" sind sie allemal. Sie sind "wahr" in einem "höherem Sinne". "So wahr" Menschen zu allen Zeiten gelegentlich erleben konnten, dass sie Wege aus ausweglos erscheinender Situationen fanden, dass sie unter heillosen Umständen entgegen aller Logik Heilung erlebten und, wo es nach menschlichen Ermessen nichts mehr zu retten gab, eben doch Rettung erfuhren.
Glaubende "buchen" Errettungen nicht einfach auf das Konto der eigenen Überlebenskünste, Heilungen nicht nur als Ergebnis gesundheitsfördernden Verhaltens und wundersame Naturphänomene nicht nur als besondere Zufälligkeit im ansonsten gesetzmäßigen Ablauf der Schöpfung. Glaubende "deuten" vielmehr die Phänomene von Gott her: als sein überraschendes persönliches Eingreifen oder als seine lang vorbereitete Fügung. Entsprechend erzählen die Wundergeschichten nicht dieses oder jenes Ereignis objektiv nach, sondern wie es höchst subjektiv erlebt wurde: Mancher Wundererzähler der Bibel übt sich in sparsamer Zurückhaltung, im frommen understatement. Mit anderen geht schier das Temperament des orientalischen Erzählers übertreibend auf und davon. Alle wollen aber letztlich die Ereignisse nicht protokollieren, vielmehr "nur" Gott in freudiger hymnischer Breite preisen.
Wie Jesus mit Wundern umgeht
Die Wunder Jesu, wie sie bei Matthäus, Markus und Lukas berichtet werden, entsprechen ganz den alttestamentlichen Vorbildern, übertreffen und überbieten sie noch und nehmen im Leben Jesu breiten Raum ein. Dass sie für das gesamte Christusereignis jedoch nicht die dringlichste Priorität besitzen, ist daran zu erkennen, dass Paulus, der gewichtigste und älteste schriftliche Zeuge und Interpret Jesu, in seinen Briefen nicht auf die Wunder zu sprechen kommt. Das mag all jenen entgegenkommen, die gerne glauben, aber mit der archaischen Art der Wunderschilderung ihre liebe Mühe haben. Es gibt durchaus einen Glauben, ohne die Wunder Jesus zu erwähnen.
Jesus selbst geht mit seinen Wundern höchst dezent um oder verbietet gar, sie weiterzusagen, ja klagt gelegentlich über seine "wundersüchtigen" Zeitgenossen. Am tiefsten dürfte ihn das Johannesevangelium verstanden haben. Es spricht konsequent von "Zeichen Jesu". Es geht also nicht um geistliche Spektakel und Mirakel, sondern um "Zeichen" von Gott, um "Hinweise" auf Gott. Jesus verweist nicht auf sich als einen großen Wundertäter. Er weist auf Gott. Und Gott lässt den Menschen aus Nazareth sozusagen transparent werden. Aus ihm, aus seinem Leben und Handeln, schaut einen Gott an. Der Mensch aus Nazareth selbst ist ein einziges "Zeichen" für Gott.
Von zentraler Wichtigkeit für den Glauben ist letztendes "nur" das Wort vom Kreuz und der Auferstehung - das freilich seinerseits ein Wunder und Geheimnis des Glaubens darstellt. Womit wir nun am Ende unseres Katechismus folgerichtig wieder ganz am Anfang stehen. Der Glaube muss ja allemal neu buchstabiert werden.