Er habe gestaunt, als vor wenigen Wochen die Bauarbeiter beim Abschlagen des aus den 1930er-Jahren stammenden Putzes im Toreingang des Sebalder Pfarrhofs auf den in etwa drei Metern Höhe in die Mauer eingefassten Stein stießen, berichtet Sebaldus-Pfarrer Martin Brons. Die alten, hebräischen Schriftzeichen sind noch gut sichtbar. Wie sich nach einiger Recherche, unter anderem in alten Reiseberichten, herausstellte, ist der Stein schon mehrfach als Besonderheit in dem im 13. Jahrhundert neben der Kirche St. Sebald entstandenen Ensemble beschrieben worden.
Brons vermutet, dass sein Vorgänger und einstige Sebalder Probst Pfinzing Mitte des 15. Jahrhunderts den Grabstein einer gewissen Frau Gutlin aus Antikeninteresse im humanistisch geprägten Nürnberg des frühen 16. Jahrhunderts nachträglich in die Mauer einbauen ließ.
Darauf weisen die extra angefertigte Fassung sowie die Aussparung für den Grabstein in der Mauer hin. „Da der Putz an der Wand rund um den Stein etwas spärlicher aufgetragen war als andernorts, glauben wir, dass sich selbst der Verputzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts dieses Schatzes bewusst war und ihn nicht für alle Zeiten zerstören wollte“, gibt Brons die Vermutung des Restaurators Eberhard Holter wieder.
Der erste Schritt des Sebalder Pfarrers war es, die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg (IKGN) über den Sensationsfund zu informieren: Nicht nur, dass der Stein gefunden wurde. „Im Prinzip ist er ein Beispiel von Raubkunst“, erklärt Brons, „stammt er doch vom zerstörten jüdischen Friedhof der Nürnberger Altstadt. Wir hätten den Grabstein der jüdischen Gemeinde deshalb ohne Weiteres mit der Bitte um Verzeihung wieder zurückgegeben.“ Doch schnell wurde man sich vor Ort klar, dass der Stein dort, wo er sich seit nunmehr rund 500 Jahren befindet, sehr gut aufgehoben ist und in Zukunft eine neue Funktion haben wird. „Es ist ein Geschenk, dass er gefunden wurde. Und es ist ein Geschenk, wenn wir uns durch ihn wieder näher kommen“, meint Leibl Rosenberg, Publizist und Historiker jüdischer Geschichte. Nicht nur während der mittelalterlichen Pogrome, auch im Zweiten Weltkrieg seien viele Grabsteine jüdischer Bürger verschwunden, was die Gemeinde bis heute tief schmerze. Der Grabstein für Frau Gutlin steht stellvertretend für sie.
Für Jo-Achim Hamburger, Vorsitzender der Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg, ist der Fund eine kleine Sensation. In der Altstadt Nürnbergs gebe es kaum noch jüdische Spuren.
Dass die evangelische Kirchengemeinde St. Sebald nun auf die IKGN zugekommen sei und die Nürnberger jüdische Gemeinde offen in die Frage mit dem Umgang mit dem Fund mit einbezogen habe, bezeichnete Hamburger als einen Akt der Versöhnung. Vier Mal seien Juden im Laufe der Geschichte aus Nürnberg vertrieben worden. Als vor rund 50 Jahren die zu Treppenstufen in der Nürnberger Lorenzkirche umfunktionierten jüdischen Grabsteine aus dem 1367 zerstörten Friedhof entfernt werden sollten, hätten sich die Protestanten damals seinem Vater und einstigen IKGN-Vorsitzenden Arno Hamburger gegenüber noch wenig kooperativ verhalten. Zwei Jahre lang hatte Hamburger über deren Rückgabe und vor allem den damit verbundenen finanziellen Aufwand mit dem evangelischen Dekanat verhandelt. Schließlich teilten die beteiligten Gemeinden sich die Kosten, den Rest steuerte die Stadt Nürnberg bei. Die Steine hängen heute in der Aussegnungshalle am Neuen Jüdischen Friedhof.
Zusammen mit der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und dem Beauftragten der Landeskirche für jüdisch-christlichen Dialog, Axel Töllner, überlege man nun, wie man dieses älteste Zeugnis jüdischen Lebens in Nürnberg der Öffentlichkeit zukünftig angemessen näherbringen wird, erklärte Sebalduspfarrer Martin Brons. Dafür wird der Grabstein wissenschaftlich aufgearbeitet und dokumentiert und soll am Kernort der Stadtgeschichte Zeugnis und Mahnung für die in der Vergangenheit so oft verletzte geschwisterliche Beziehung zwischen Juden und Christen sein. „Wer antisemitisch agiert, sägt immer an dem Ast des Lebensbaumes, der ihn selbst trägt“ fasst Brons das Verhältnis zusammen.