"Wir können neue Impulse nur setzen, wenn wir bereit sind, alte Aufgabenbereiche aufzugeben."

Herr Liess, das Dekanat München muss künftig mit 171 statt bisher 189 hauptamtlichen Stellen auskommen. Ist die Verteilung der Pfarrstellen in München nun abgeschlossen?

Liess: Die Stellenkontingente sind verteilt und angenommen, jetzt müssen die Prodekanate entscheiden, welche Inhalte sie damit gestalten möchten. Konkret: Das Prodekanat München-Mitte verliert 2,5 Stellen und hat künftig noch 17 Hauptamtliche. Das lösen wir jetzt noch recht pragmatisch. Beim nächsten Landesstellenplan geht das aber nicht mehr. Deshalb müssen wir jetzt schnell analysieren, welche Orte wir in der City benötigen, was die Menschen von uns brauchen, wo wir Kooperationen beginnen und vertiefen können. Für den dekanatsweiten Dienst hat die Steuerungsgruppe vorgeschlagen, eine neue Stelle für "Kirche im digitalen Raum" einzurichten. Die Dekanatssynode muss im Herbst entscheiden, ob sie das will oder nicht. Klar ist: Alles wird nicht gehen. Wir können neue Impulse nur setzen, wenn wir bereit sind, alte Aufgabenbereiche aufzugeben.

Sie haben bei einer Zwischenbilanz als Stadtdekan gesagt, dass die Strukturen im Dekanat zu schwerfällig sind. Gibt es bald wieder vier statt sechs Prodekanate?

Liess: Das könnte eine Möglichkeit sein. Gegebenenfalls müssen wir über die Größe und Anzahl unserer Gremien nachdenken. Die Frage ist: Wie kommen wir schneller als bisher zu Entscheidungen, ohne unsere demokratischen Grundsätze über Bord zu werfen? Das würde ich gern in größtmöglicher tabuloser Offenheit diskutieren. Dazu brauchen wir eine enge Zusammenarbeit mit der Landeskirche, falls Kirchengesetze wie die Dekanatsbezirksordnung betroffen wären. Ich kann mir gut vorstellen, dass München in der Strukturfrage Laborcharakter für die ganze Landeskirche hat.

"Kirche ist multikulturell und plural, und sie sollte noch inklusiver sein."

Im September gibt es verschiedene Gottesdienste mit viel interkultureller Beteiligung. Was ist das Ziel?

Liess: Die Stadtgesellschaft weiß gar nicht, wer im Bereich der interkulturellen Gemeinden alles unterwegs ist - von den Christen aus Kongo bis Korea. Wir wollen diese Akteure stärker vernetzen und sichtbar machen. Ich glaube, viele Menschen denken traditionell an eine Kirche ohne Menschen mit Migrationshintergrund, wenn sie an Kirche denken. Aber Kirche ist multikulturell und plural, und sie sollte noch inklusiver sein.

Wird der Rat der Religionen künftig wichtiger?

Liess: Wir wollen den Rat der Religionen stärker in die Stadtgesellschaft einbringen. Eine Aktion wie das Friedensgebet für die Ukraine mit weit über 1.000 Teilnehmern kann ruhig häufiger stattfinden. Ich glaube, die Menschen erwarten das von uns: Dass wir interreligiös auftreten, ohne dass die einzelnen Profile verschwimmen. Das Signal muss sein: Die Religionen ziehen für ein friedliches Miteinander in der Stadtgesellschaft an einem Strang.

"Auch Nachhaltigkeit muss wirtschaftlich sein."

Wie wollen Sie das ehrgeizige Ziel des Dekanats, bis 2035 klimaneutral zu sein, erreichen?

Liess: Das ist vor allem eine Frage der Immobilienstrategie, denn rund 90 Prozent der kirchlichen Emissionen kommen aus diesem Bereich. Welche Gebäude wollen wir halten? Ist kirchliche Präsenz immer an Häuser geknüpft? Grundsätzlich verkaufen wir unsere Gebäude ungern, deshalb müssen wir nach Möglichkeiten suchen, wie wir sie in Kooperation mit anderen nutzen können. Erst wenn wir wissen, welche Immobilien wir künftig brauchen, macht es Sinn, diese unter Klimagesichtspunkten zu optimieren. Und auch Nachhaltigkeit muss wirtschaftlich sein. Deshalb kann es sein, dass wir über das Prinzip der Drittelfinanzierung, wonach das Dekanat notwendige Bauvorhaben grundsätzlich zu 30 Prozent finanziert, nachdenken müssen.

Die Landeskirche setzt künftig verstärkt auf Ehrenamtliche. Wo kommen die aber her, wenn insgesamt das Interesse an Kirche abnimmt?

Liess: Man sieht bei anderen großen Organisationen oder Vereinen wie zum Beispiel den Hospizvereinen, dass man sehr wohl Ehrenamtliche werben kann für klar definierte Aufgaben. Wir müssen unseren Ehrenamtlichen noch mehr zutrauen, ihnen konkrete Aufgaben und dafür Entscheidungsbefugnisse geben. Frust aufgrund unklarer Zuständigkeiten darf es nicht mehr geben. Jeder, der Interesse an einer Mitarbeit hat, ist herzlich willkommen.

Wie wichtig ist es für Kirche dann noch, dass ihre Aktiven auch Kirchenmitglieder sind?

Liess: Die Bereitschaft zum Ehrenamt ist nicht gebunden an eine Kirchenmitgliedschaft. Jede, jeder Getaufte ist - theologisch gesehen - zunächst Mitglied der Kirche. Aber wie verträgt sich diese theologische mit der institutionellen Mitgliedschaft? Längst reden wir in Taufgesprächen mit potenziellen Paten, die keiner Kirche angehören. Es gibt Menschen, die gern bei uns mitarbeiten, aber nicht zahlendes Mitglied werden möchten. Wie gehen wir mit denen um? Ich glaube, dass wir ganz neue Formen von Mitgliedschaft brauchen.

"Die evangelische Kirche München ist in zehn Jahren als immer noch großer Akteur der Gesellschaft Anwältin für die Schwachen."

Wenn all diese Prozesse voranschreiten, wird sich das Bild von Kirche verändern. Welche Ausstrahlung hat die evangelische Kirche München in zehn Jahren?

Liess: Sie ist an zentralen Orten in der Stadtgesellschaft, in den Quartieren klar erkennbar. Sie bietet ein attraktives spirituelles, kulturelles und gesellschaftspolitisches Programm. Sie ist im digitalen Raum so präsent, dass sie dort ihre Themen setzen kann. Sie ist eine verlässliche Partnerin der Landeshauptstadt, gerade mit ihren sozialdiakonischen Angeboten. Sie fördert den interkulturellen und interreligiösen Dialog. Und sie ist, als immer noch großer Akteur der Gesellschaft, Anwältin für die Schwachen.