Explizit auf der Tagesordnung steht das Thema Missbrauch bei der Frühjahrstagung der Synode zwar nicht. Doch wenn es um die Zukunft der Kirche geht, spielt es eine ganz zentrale Rolle, wie Barbara Pühl betont. Im Interview mit dem Sonntagsblatt erklärt sie außerdem, wie wichtig das Einbeziehen der Betroffenen ist – und warum immer noch viele das Thema nicht ernst genug nehmen.
"In Sachen Prävention ist tatsächlich ein wichtiger Schritt passiert."
Was ist seit der letzten Synode aus Ihrer Sicht im Bereich Prävention von sexualisierter Gewalt erreicht worden´?
Barbara Pühl: Eigentlich denke ich nicht in dem Zeitraum von Synode bis zur Synode. Aber man kann sagen: Im Herbst 2020 hat die Synode das Präventionsgesetz und auch die Stellenerweiterungen beschlossen. 2021 wurden sämtliche Präventions-Stellen in meinem Team besetzt. Wir haben jetzt ein sehr kompetentes Team und konnten bis Dezember das Konzept auf die Füße stellen. Und seit Januar ist das ganze Präventions-Team in der gesamten Landeskirche unterwegs, um Schulungen und Fortbildungen zu machen und Konzepte zu entwickeln. Insofern ist in Sachen Prävention tatsächlich ein wichtiger Schritt passiert.
Ihre Fachstelle ist jetzt also voll einsatzfähig?
Pühl: Das ist tatsächlich so. Es ist ja nicht nur das Gesetz verabschiedet worden, sondern auch noch das Konzept. Wir haben natürlich auch selber einen Plan, wie und in welcher Geschwindigkeit wir schulen und fortbilden wollen. Aber auch die Leute kommen auf uns zu. Für unser Team sind für dieses Jahr schon über 70 Fortbildungen geplant.
Denken Sie, das Thema hat auch durch den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche noch mal Auftrieb bekommen?
Pühl: Das kann man ganz eindeutig so sagen, ja. Es ist eigentlich fast immer so, wenn das Thema größer in den Medien ist, dass sich mehr Menschen bei uns melden. Das sind sowohl Betroffene, die ihren Fall mitteilen, als auch solche, die mehr Information von uns wollen – von intern und extern. Mit der Veröffentlichung des Gutachtens in München hat es schon noch mal deutlich an Fahrt aufgenommen. Es kommen nochmal vermehrt Nachfragen, der Wunsch nach Fortbildungen – intern, aber auch von extern.
"Bewusstsein und Sensibilität zu schaffen, ist wirklich eine enorme Aufgabe."
Ist Aufklärung und Sensibilisierung der Weg, wie wir dem Problem Herr werden können?
Pühl: Das Bewusstsein ist ein ganz entscheidender und wichtiger Punkt. Bei den Menschen nehme ich zwei Lager wahr: Viele, die sehr engagiert sind und sagen: Wir müssen jetzt was tun. Aber es gibt immer auch noch die, die sagen: Mir ist in meiner Kirche immer nur Positives widerfahren, bei uns gibt es sowas nicht. Und gerade die gilt es ganz besonders zu erreichen und ihnen zu vermitteln: Na ja, aber passieren kann es trotzdem überall. Und dafür Bewusstsein und Sensibilität zu schaffen, ist wirklich eine enorme Aufgabe. Es sind jetzt viele Dinge vonseiten der Kirchenleitung passiert. Aber die Umsetzung dessen und dieses Bewusstsein braucht man einfach in der Fläche, weil die Fälle vor Ort passieren.
Ich könnte mir vorstellen, dass man da öfter auf eine Abwehrhaltung trifft.
Pühl: Klar, das Thema ist für niemanden schön. Und manche sagen: Ich möchte mich am liebsten gar nicht damit beschäftigen. Das Thema führt uns die menschlichen Abgründe vor Augen, und da möchte niemand wirklich gerne hingucken. Von daher ist es verständlich, dass Menschen das nicht wollen und einfach auch Angst davor haben. Aber natürlich müssen wir uns dem stellen, zumal wir als Kirche da noch mal eine besondere Verantwortung haben, weil wir sagen, wir wollen das positive Menschliche in den Vordergrund stellen und unterstützen. Und da müssen wir uns auch mit den Abgründen auseinandersetzen.
Würden Sie sich von der Landeskirche noch mehr Unterstützung bei dieser Aufgabe wünschen?
Pühl: Vonseiten der Kirchenleitung haben wir die volle Unterstützung. Wir haben nicht das Gefühl, dass wir da Überzeugungsarbeit leisten müssen oder gar gebremst werden. Es ist eher so, dass sie uns wirklich stark unterstützen. Die wollen wirklich, dass wir das aufarbeiten, dass wir diese Präventionsarbeit machen. Was die Ressourcen angeht: Das ist wahrscheinlich eine grundsätzliche Frage, natürlich kann man immer noch mehr brauchen.
"Betroffene machen immer wieder die Erfahrung, dass ihnen nicht geglaubt wird."
Gehört es aus Ihrer Sicht auch zur Prävention, auf die Forderungen der Betroffenen einzugehen?
Pühl: Wir hatten tatsächlich jüngst zwei Begegnungen mit Betroffenen. Das eine war eine Begegnung mit Synodalen und das andere war letzte Woche mit der Kirchenleitung und Vertretern aus dem Diakonischen Werk. Da ging es darum, dass Betroffene ihre Sicht dargestellt haben, wie sie unsere Arbeit wahrnehmen und was ihre Bedürfnisse und Erwartungen sind. Das ist etwas, was für uns sehr, sehr wichtig war: Die Erkenntnis, dass Betroffene immer wieder die Erfahrung machen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Sie vertrauen sich einem anderen Gemeindeglied an, jemandem aus dem Kirchenvorstand oder auch einer Pfarrerin und ihnen wird gesagt: Na ja, das hast du vielleicht falsch interpretiert oder schweig besser dazu. Dadurch werden die Menschen ein zweites Mal verletzt. Und deswegen ist es so wichtig, Menschen vor Ort zu sensibilisieren. Das wiederum ist Teil der Schulungs- und Präventionsarbeit. Es ist auch für Betroffene wichtig, in diesen Prozessen beteiligt zu werden. Und wir versuchen das auch weiter auszubauen.
Was ist bei der Hilfe für die Betroffenen für Sie das dringendste Problem?
Pühl: Ein Dilemma, mit dem wir immer wieder zu tun haben und für das wir weiter nach Lösungen suchen, ist der Umgang mit den juristischen Fragen. Viele Verfahren werden eingestellt oder enden mit einem Vergleich, weil Aussage gegen Aussage steht und keine Beweise vorhanden sind. Das liegt einerseits natürlich in der Natur der Sache, weil diese Übergriffe im Verborgenen stattfinden und keine Zeugen haben. Andererseits ist aber das, was Betroffene schildern, häufig absolut glaubwürdig. Es kann nur juristisch nicht festgestellt werden. Gleichzeitig besteht aber die hohe Erwartung, dass die Kirche entsprechend reagiert oder eine finanzielle Leistung erfolgt, was natürlich schwierig ist, wenn es dazu keine rechtliche Grundlage gibt. Da stoßen wir nicht nur in der Kirche, sondern auch mit den staatlichen Gesetzen einfach an Grenzen und brauchen kreative Lösungsansätze, wie wir trotzdem Betroffene unterstützen können, ohne dass man den Grundsatz der Unschuldsvermutung im rechtlichen Sinne aufhebt.
"Bei diesem Thema geht es ganz zentral und entscheidend um unsere Glaubwürdigkeit als Kirche in Zukunft."
Bei der Synode soll es ja um die Kirche der Zukunft gehen. Was würden Sie sich dazu aus fachlicher Sicht konkret wünschen?
Pühl: Ich würde mir auch bei denjenigen, die selber bisher keine negativen Erfahrungen gemacht haben oder damit nicht persönlich in Berührung gekommen sind, ein Problembewusstsein wünschen. Bei diesem Thema geht es ganz zentral und entscheidend um unsere Glaubwürdigkeit als Kirche in Zukunft.
Und was würden Sie sich insgesamt für die Kirche der Zukunft wünschen?
Pühl: Dass wir uns immer wieder besinnen, warum wir Kirche sind, was der Grund ist, der uns trägt und der uns ausmacht. Die Essenz unserer Botschaft erkennen und uns entsprechend aufstellen und handeln. Das ist für mich, dass unsere Welt und unser Leben nicht aus sich selbst heraus existieren, sondern "geschenkt" sind, und dass es an uns ist, das in unserem Miteinander und auf Gott hin sichtbar werden zu lassen. Es gibt immer viele strukturelle, finanzielle und andere Fragen. Die sind auch wichtig, die muss man auch klären. Aber im Prinzip geht es hier einfach immer wieder darum: Warum braucht es uns, warum braucht es die christliche Botschaft heute noch in der Gesellschaft? Wenn wir das nicht mehr wissen, sind wir überflüssig geworden.