Herr Kopp, in einem Teil der ForuM-Studie ging es um Aktenanalyse. Nun beklagen die Forscher, dass die meisten Landeskirchen nur die Disziplinarakten ausgewertet haben. Hat Sie die Kritik überrascht?

Christian Kopp: Ja, die Kritik hat mich überrascht. Denn die Forscherinnen und Forscher der sogenannten Teilstudie E wussten sehr genau, was es bei der katholischen Kirche für ein personeller und finanzieller Aufwand war, die Personalakten von rund 38.000 Klerikern zu sichten - schließlich waren sie zum Teil selbst daran beteiligt. Wir reden für die bayerische Landeskirche von einer mindestens hohen sechsstelligen Zahl bei den Personalakten. Das hätten wir im Erhebungszeitraum der ForuM-Studie schlichtweg nicht umsetzen können. Deshalb hat man sich - meiner Einschätzung nach: gemeinsam mit den Forschenden - auf die Disziplinarakten beschränkt.

"Die ForuM-Studie war der Anfang, nicht der Abschluss der Aufarbeitung."

Aber wieso hat die evangelische Kirche sich dann überhaupt auf dieses Studiensetting eingelassen, wenn doch von Anfang an klar war, dass das nur schwer bis gar nicht umsetzbar ist?

Das weiß ich nicht, denn ich kenne die genaue Vereinbarung zwischen EKD und Studienmachern nicht. Ich will an dieser Stelle aber klar sagen: Wir werden uns die Personalakten noch genau ansehen. Das aber wird viel mehr Zeit brauchen. Die ForuM-Studie war der Anfang, nicht der Abschluss der Aufarbeitung. Mir ist sehr wichtig, dass wir uns nicht nur auf diese Zahlen oder auch auf die Datengrundlage dazu konzentrieren - denn der Großteil der Studie beschäftigt sich qualitativ mit dem Thema sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie. Und aus diesen Ergebnissen können wir viel lernen, auch wenn wir vieles davon schon geahnt haben.

Eines dieser Ergebnisse ist, dass die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt unter anderem auch an den föderalen Strukturen der evangelischen Kirche krankt.

Die Betroffenen-Vertreter haben gestern gesagt, eine ganz wesentliche Schlussfolgerung aus den Ergebnissen der ForuM-Studie muss sein, dass sich die Verfahren für Betroffene verbessern - und dazu gehört auch, dass sie in jeder Kirche gleich sind. Dass der Föderalismus in der evangelischen Kirche hierzulande bei einer Vereinheitlichung nicht gerade hilfreich ist, das ist wenig überraschend - man kennt das doch auch aus der Politik, wie schwer sich die Bundesländer bei gemeinsamen Positionen tun. Hinzu kommt, dass es in einer Landeskirche dann nicht den einen Häuptling gibt, der alles entscheidet. Ich muss um Zustimmung werben.

"Die EKD-Gliedkirchen müssen beim Thema sexualisierte Gewalt noch mehr zusammen im Verbund machen."

Das heißt, auch die demokratischen Strukturen in den Landeskirchen sind beim Thema sexualisierte Gewalt eher ein Problem?

Ja, klar, das steht uns im Weg, das ist keine Frage. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass die EKD-Gliedkirchen beim Thema sexualisierte Gewalt noch mehr zusammen im Verbund machen müssen. Skeptisch bin ich allerdings bei der Forderung von Betroffenen nach einer Art Generalbevollmächtigten. Das klingt zwar im ersten Moment gut, aber wir werden das realistischerweise nicht umgesetzt bekommen, weil es ja in die demokratischen Strukturen der einzelnen Kirchen eingreifen würde. Aber: Es könnte etwa ein Team auf EKD-Ebene mit Expertinnen und Experten geben, das grundsätzliches Rederecht bei den einzelnen Synoden hat.

Waren Sie überrascht, welche spezifischen evangelischen Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt die Studienmacher am Donnerstag benannt haben?

Einige dieser Risikofaktoren waren schon im Blick, bei anderen hat man es geahnt und wieder andere haben mich auch etwas überrascht. Ich würde einmal behaupten, dass wir heute als bayerische Landeskirche im Umgang mit sexualisierter Gewalt schon viel, viel weiter sind als in den 1970er-Jahren. Beispielsweise, dass wir vor allem in den vergangenen vier Jahren seit Verabschiedung des Präventionsgesetzes große Fortschritte gemacht haben - aber natürlich reicht das nicht. Und deshalb bin ich dankbar für die neuen Hinweise, die uns die Studie jetzt gibt, beispielsweise zum noch größeren Bedarf an einheitlichen, transparenten Verfahren.

"Es darf nie wieder sein, dass Betroffene sich ausgegrenzt oder an den Pranger gestellt fühlen."

Was bedeuten die Studienergebnisse für Sie theologisch - also, wie konnten Versuche, dieses Thema in der Vergangenheit kleinzureden, jemals mit christlichem Glauben zusammengehen?

Gar nie. Denn mit jeder Tat, mit jedem Tatversuch wurden Grundanschauungen unseres christlichen Glaubens mit Füßen getreten. Der Respekt vor jedem Leben, die Annahme und die Begleitung von Menschen, denen Leid widerfahren ist, steht im Mittelpunkt unseres Glaubens. Dass die Sicherung institutioneller Belange bis in die jüngere Vergangenheit oft viel, viel wichtiger als der theologische Kern unseres Glaubens waren, das ist frappierend - und dagegen brauchen wir ein noch viel entschiedeneres Vorgehen. Es darf nie wieder sein, dass Betroffene sich ausgegrenzt oder an den Pranger gestellt fühlen, nur weil sie sich gemeldet haben.

Herr Landesbischof: Sie und auch ihr Amtsvorgänger Heinrich Bedford-Strohm haben Vorgaben des Staates bei Aufarbeitung und Anerkennungsleisten gefordert - warum passiert da nichts?

Offenbar ist es ja jetzt so, dass es im Bund endlich Bestrebungen gibt, ein Aufarbeitungsgesetz auf den Weg zu bringen, das Leitplanken bei der Art und Weise der Aufarbeitung und bei den Anerkennungsleistungen vorgeben soll. Einen solchen staatlichen Rahmen wollen wir schon lange - denn nur so können vergleichbare Verfahren innerhalb der verschiedenen Kirchen und auch in anderen Organisationen wie Vereinen geschaffen werden. Hinter jedem einzelnen Fall steht eine Person mit unerträglichem Leid. Und die sollte mit niemandem, egal ob in der Kirche oder anderswo, um den Modus oder die Höhe einer Anerkennung streiten müssen.

"Ich glaube nicht, dass wir in einigen Jahren noch neu verbeamtete Pfarrpersonen haben werden."

Viele Landeskirchen haben sich in der Vergangenheit schwergetan, verbeamtete Täter dauerhaft aus dem Dienst zu entfernen. Braucht es da eine Reform des Dienstverhältnisses?

Das ist eine große Herausforderung in den evangelischen Kirchen - und nicht nur wegen des Themas der sexualisierten Gewalt. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zeit der staatsähnlichen Struktur von Kirche - mit Gesetzen, mit Verordnungen, mit öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnissen - bald vorbei ist. Ich glaube nicht, dass wir in einigen Jahren noch neu verbeamtete Pfarrpersonen haben werden. Das passt auch nicht mehr zur künftigen Struktur, die sich Kirche geben muss, sei es aus Personalmangel oder finanziellen Gründen. Ganz nebenbei: Viele junge Pfarrerinnen und Pfarrer legen auf den Beamtenstatus wenig wert.

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