Mit welchen Erwartungen fahren Sie nach Karlsruhe?

Maria Stettner: Wenn man mit Glaubensgeschwistern aus der ganzen Welt zusammenkommt, kann man persönlich sein Verständnis von Glauben erweitern, weil die Erfahrungen, die Christen in anderen Konfessionen, in anderen Teilen der Welt, anderen Kulturen machen, nicht immer identisch sind mit den eigenen. Das heißt, man lernt unendlich viel dazu und gleichzeitig kann man auch entdecken, dass es viele zentrale gemeinsame Fragestellungen gibt. Und darin liegt meiner Meinung nach die Stärke dieser Vollversammlung: Miteinander die gemeinsamen Themen zu entdecken, daran zu arbeiten und miteinander zu überlegen: Wo sind wir als Christen gefragt in unseren so unterschiedlichen Gesellschaften, aber doch ähnlichen Herausforderungen?

"Wo muss man miteinander den Finger in die Wunde legen und sagen, bei bestimmten Themen müsst ihr euch verändern, damit unser Zeugnis als Christen auch glaubwürdig bleibt?"

Welche Herausforderungen sind das?

Zum Beispiel: Wo brauchen Christen im Süden die aus dem Norden, und wo nicht? Und wo ist es umgekehrt? Wo muss man besser aufeinander hören, damit das Glaubenszeugnis in den verschiedenen Regionen der Welt in der Gesellschaft Gehör findet? Und wo muss man miteinander vielleicht auch den Finger in die Wunde legen und sagen, bei bestimmten Themen müsst ihr euch verändern, damit unser Zeugnis als Christen auch glaubwürdig bleibt?

Haben Sie ein Beispiel?

Vor neun Jahren konnte ich in einer Beobachter-Gruppe bei der Vollversammlung in Busan in Korea teilnehmen. Dort ist ein Kirchenvertreter einer kleinen pazifischen Insel aufgetreten und hat gesagt: So wie ihr im Norden lebt, grabt ihr uns das Grab. Denn der Energieverbrauch bei euch, das, was ihr zum Klimawandel beitragt, trägt dazu bei, dass unsere Insel absäuft. Was wir von euch brauchen als Glaubensgeschwister: Dass ihr mit uns gemeinsam Verantwortung für unsere Schöpfung übernehmt, dass ihr euch einsetzt dafür, dass Gottes Schöpfung bewahrt wird. Und so ein Impuls ist eminent wichtig.

Ist das nicht eher politisch als religiös?

Nein, es ist eben auch ein Glaubensimpuls, denn es geht um Gottes Schöpfung und um unsere Verantwortung als Christen in diesem Raum, in der Welt als Hemisphäre Gottes und nicht als materielle Welt. Das ist ein praktisches Beispiel dafür, wie die Kirchen miteinander reden und ringen und sich jeweils der Unterstützung der anderen versichern wollen, aber auch Kritik üben aneinander.

"Frieden hat sehr viel mit einem gerechten Umgang miteinander zu tun."

Welche Rolle wird der Krieg in der Ukraine beim Weltkirchenrat spielen?

Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich seit seiner Gründung 1948 mit dem Thema Frieden und Gerechtigkeit auseinandergesetzt und inzwischen den Ausdruck ‚gerechten Frieden‘ entwickelt, der deutlich macht: Frieden hat sehr viel mit einem gerechten Umgang miteinander zu tun. Natürlich ist dieser Krieg für den ÖRK eine besondere Herausforderung, weil er hier Menschen gegeneinander kämpfen, die zum guten Teil zu Mitgliedskirchen des ÖRK gehören – und weil ein Kirchenoberhaupt einer großen Mitgliedskirche, der russisch-orthodoxen Kirche, diesen Krieg rechtfertigt.

Es gab Stimmen, die einen Ausschluss der russisch-orthodoxen Kirche aus dem Weltkirchenrat gefordert haben. Wie stehen Sie dazu?

Nun, innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche gibt es eine interne Opposition gegenüber Patriarch Kyrill und seiner Unterstützung der Politik Putins. Wenn man die russisch-orthodoxe Kirche aus dem ökumenischen Gespräch ausschließen würde, hätte diese Opposition überhaupt keine Stimme mehr. Zudem könnte mit der russisch-orthodoxen Kirche ein sehr großes Mitglied nicht mehr Teil des ÖRK sein. Deshalb ist es aus meiner Sicht ein wichtiger Aspekt, weiter im Gespräch zu bleiben. Wie gut die russisch-orthodoxe Delegation den Gegenwind aushalten wird, ist natürlich eine andere Frage.

"Entscheidend werden nicht nur die großen Plenumsveranstaltungen auf der Vollversammlung sein, sondern auch die vielen Gespräche, die in diplomatischer Weise zwischen Vertretern von Kirchen stattfinden."

Inwieweit kann der Austausch zwischen den Kirchen denn helfen, einen spürbaren Friedensimpuls in die Ukraine zu senden, wie es die EKD-Ratsvorsitzende Kurschus gefordert hat?

Wie stark diese Gespräche dem Frieden dienen können, ist schwer zu prognostizieren. Entscheidend werden vielleicht auch nicht die großen Plenumsveranstaltungen auf der Vollversammlung sein, sondern eher die vielen Gespräche, die in diplomatischer Weise zwischen Vertretern von Kirchen stattfinden werden. Gespräche, die nicht protokolliert werden, sondern vertraulich und auch mit Unterstützung des Gebets in so einer Vollversammlung Platz finden können.

Wie groß ist der Handlungsspielraum der Vollversammlung denn überhaupt?

Sie kann Entscheidungen treffen, aber nur solche, die ihre eigene Struktur betreffen, ihre Arbeitsweise und die gemeinsamen Themen. Sie macht den Mitgliedskirchen keine Vorgaben, wie sie diese Entscheidungen umsetzen und legt nicht fest, wie mit den Themen in den verschiedenen Kirchen umgegangen wird. Wie man die Ergebnisse und Impulse vor Ort implementiert, ist die Aufgabe der jeweiligen Mitgliedskirchen.

"Es geht darum, die Vielfalt der Konfessionen miteinander ins Spiel zu bringen und zu fragen, wie Christen in einer größeren Gemeinschaft das Evangelium so ausrichten können, dass Menschen es verstehen."

Man einigt sich also auf einen groben Rahmen, aber überlässt die Umsetzung den jeweiligen Mitgliedern?

Die Grundidee des Ökumenischen Rates der Kirchen ist, dass nicht nur im Rahmen von einzelnen Konfessionen – also z.B. bayerische Lutheraner mit dem Lutherischen Weltbund – die Gemeinschaft gesucht wird, sondern auch mit anderen kirchlichen Traditionen, also mit der Orthodoxie und weiteren reformatorischen Kirchen wie zum Beispiel Reformierten, Methodisten oder Baptisten. Es geht darum, die Vielfalt der Konfessionen miteinander ins Spiel zu bringen und zu fragen, wie Christen in einer größeren Gemeinschaft das Evangelium so ausrichten können, dass Menschen es verstehen, hören und sehen können. Diese Christen sind eben kein total zerstrittener Haufen, auch wenn sie sehr divers sind, sondern in wichtigen Fragen unserer Zeit wollen sie miteinander Antworten suchen und Wege entwickeln, wie Kirche glaubhaft Kirche Jesu Christi sein kann, wie sie die Botschaft des Evangeliums in unserer Zeit neu sagen können, und wie sie das in die Tat bringen können, was sie glauben und hoffen.

"Wir brauchen die Stimmen der anderen, weil die Kirche Jesu Christi nicht auf Bayern oder Deutschland begrenzt ist."

Was sagen Sie evangelischen Gläubigen aus Bayern, die sich fragen, was hat der Weltkirchenrat mit mir zu tun?

Das ist eine berechtigte Frage, weil unsere Landeskirche zwar Mitglied beim Ökumenischen Rat der Kirchen ist, wir aber nur indirekt mitreden können. Wir bilden mit den anderen Landeskirchen aus ganz Deutschland zusammen eine gemeinsame EKD-Delegation, in der nur ein Teil der Landeskirchen vertreten ist. Die Delegationen sind bei insgesamt 352 Mitgliedskirchen in der Größe begrenzt. Ich kann verstehen, dass manche fragen: Ja, bringt's das? Was kommt denn bei uns in Bayern dann raus? Und da komme ich dann wieder zurück zu dem, was ich vorhin gesagt habe: Spannend ist, was diskutiert wird und wie wir danach damit umgehen. Zum Beispiel zum Thema Rassismus und Kirche, was ein wichtiges Thema in verschiedenen Teilen der Welt ist und auch bei uns nicht unerheblich. Wir brauchen die Stimmen der anderen, weil die Kirche Jesu Christi nicht auf Bayern oder Deutschland begrenzt ist. Bayerische Besucher und Besucherinnen, die in Karlsruhe als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren dabei sind, haben die Aufgabe diese Themen so aufzubereiten können, dass sie anschließend auch in Bayern ankommen.

Wie geschieht das konkret?

Zum Beispiel in Form von Vorträgen bei Dekanatskonferenzen oder in der Erwachsenenbildung, als Entwürfe für den Religionsunterricht, als Essays und in Beiträgen im Ökumene-Rundbrief unserer Landeskirche und so weiter. Und wir wollen am 10. September, also zwei Tage nach dem Ende der Vollversammlung in Neuendettelsau, bei Mission EineWelt einen Studientag durchführen, an dem auch Menschen teilnehmen können, die nicht in Karlsruhe sein konnten, die sich aber für die Ergebnisse interessieren und dann miteinander überlegen wollen: Was heißt das für uns?

Die Anmeldung zum Studientag "Der Pilgerweg geht weiter" – Impulse der Vollversammlung des ÖRK am 10. September 2022 in Neuendettelsau ist noch bis 5. September 20222 möglich per Mail an leitung@mission-einewelt.de. Infos zum Verlauf: Studientag in Neuendettelsau