Tür aufsperren, Tür zusperren: Es ist eine Bewegung, die Felix Walter in Fleisch und Blut übergegangen ist. Vier riesige Schlüssel und ein paar kleine hängen an seinem Schlüsselbund. "Ich mach mir jede Hosentasche kaputt damit", sagt der Pfarrer trocken, während er den langen Flur entlanggeht, von dem die Besuchszimmer und die Wartezellen abgehen.
Tür auf, Tür zu. Justizbeamte kommen entgegen, viele grüßt Felix Walter mit Namen. Am Ende eines Gangs zeigt der 57-Jährige in eine Amtsstube: Ein kleines, in die Wand eingelassenes Kreuzzeichen erinnert daran, dass hier vor dem Neubau des Trakts die Hinrichtungen stattgefunden haben – über 1.000 Menschen hat das NS-Regime zwischen 1933 und 1945 in Stadelheim umbringen lassen.
22 Stunden auf acht Quadratmetern
Tür auf, Tür zu: Stufen führen hinunter zu einer Freifläche; hinter der nächsten Mauer sieht man Gefangene beim Hofgang, dahinter graue Fassaden mit vergitterten Fenstern. Die Männer ziehen ihre Runden, unterhalten sich, machen Liegestützen, spielen Ball. "Jedem Gefangenen steht eine Stunde pro Tag an der frischen Luft zu", sagt Walter. Dazu eine Stunde Aufschluss für Körperhygiene, Essen, Abwasch. Macht 22 Stunden in der Zelle: etwa acht Quadratmeter, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Klo, ein Fenster, eine Tür ohne Klinke. "In der Zelle ist jeder ganz auf sich gestellt", sagt der Pfarrer.
Ihn macht es nachdenklich, dass Gerichtsurteile im Namen des Volkes gesprochen werden. "Wir als Gesellschaft müssen uns überlegen, was wir da machen", sagt er. Eine Gefängnisstrafe sei eine Zeitstrafe: "Sie wird nur nach Jahren gemessen – aber nicht danach, was in dieser Zeit passiert ist." Dabei seien die Fragen nach Schuld, Vergebung und dem Sinn der Zeit hinter Gittern die Top-Themen in allen Gesprächen, die er mit Gefangenen führe.
Tür auf, Tür zu: hinter der nächsten Stahlpforte ein Stück Rasen, ein paar Büsche. Eine große Holztür führt in die Kirche "Heilige Maria, Trösterin der Betrübten". Vorbei an einer kleinen Gedenk-Ecke für die Opfer des Nationalsozialismus: eine Kniebank, eine Osterkerze, an der Wand das Original-Kreuz aus der "Arme-Sünder-Zelle", in der alle zum Tode Verurteilten ihre letzten Gebete sprechen konnten. "Auch die Geschwister Scholl", sagt der Pfarrer.
Die Kirche selbst ist in dieser Umgebung ein prächtiger, lichter Raum, in dessen Glasfenster die Sieben Werke der Barmherzigkeit eingelassen sind. Felix Walter ist Gast in diesem katholischen Gotteshaus, etwa 20 bis 40 Gefangene besuchen jeden Sonntag den evangelischen Gottesdienst.
"Manche sagen: Alles ist besser als Zelle",
sagt der Pfarrer. Andere kämen wegen des Raumgefühls oder wegen der Musik. Die wenigsten seien draußen regelmäßige Kirchgänger gewesen.
Nach der Konfession fragt er nicht – ohnehin sind nur rund sieben Prozent der Gefangenen evangelisch, dazu kommen fünf Prozent Orthodoxe, 21 Prozent Muslime, 27 Prozent Katholiken und viele Konfessionslose. "Ich verstehe mich nicht als Missionar", sagt Walter, "mir ist es wichtiger, dass jemand nach seinen eigenen religiösen Wurzeln sucht. Wenn einer als besserer Muslim aus dem Gefängnis kommt, ist es gut."
Für manche Gefangene ist Felix Walter Klagemauer und Beichtvater zugleich. Denn in der U-Haft gibt es wenig Therapieangebote. "Der Leidensdruck ist trotzdem da, die Menschen wollen über die Tat reden", weiß der Theologe. Also landen die Männer – und die Insassen der Frauenabteilung – bei ihm.
Dank Beichtgeheimnis gilt für die Gefangenen: "Der Pfarrer hält’s Maul." Für Walter sind die Seelsorgegespräche mit mutmaßlichen Mördern, Vergewaltigern, Kinderschändern, Schlägern ein Spagat: "Ich will die Taten nicht verharmlosen, da bin ich als Gesprächspartner eher konfrontativ – aber ich bin nach all den Jahren auch überzeugt, dass alle Menschen Kinder Gottes sind."
Egal, was einer gemacht hat: Er ist ein Mensch, kein Monster,
sagt Felix Walter. Übrigens ist der Pfarrer bei den Treffen von Meditations- und Bibelgesprächsgruppen nicht das einzige moralische Korrektiv. Die Mitgefangenen gäben kräftig Kontra, wenn einer sich seine eigene Wahrheit erfinden wolle – und seien zugleich Trostspender für Neuzugänge, denen das Leben im Gefängnis an die Nieren geht. "Gefängnis ist eine extrem schwierige Zeit, keiner geht unbeschadet hier raus", sagt Walter.
Doch der Pfarrer ist nicht nur für die Gefangenen da: Auch manche Angestellte der JVA suchen das Gespräch bei Problemen am Arbeitsplatz oder daheim, genauso wie die Angehörigen der Inhaftierten.
"Wenn sich ein Gefangener bei mir beklagt, dass seine Frau nur alle 14 Tage schreibt, er aber jeden Tag, dann wasche ich ihm den Kopf", sagt Walter mit leisem Grimm. Schließlich müssten die Frauen von einem Tag auf den anderen mit allem allein klarkommen: Kinder, Einkommen, Alltag, und dazu noch das Naserümpfen der Gesellschaft über den Mann im Knast.
Haft sei noch immer ein "Schamthema", eine "Sollbruchstelle für Beziehungen", ein Freundschaftskiller, ein Kündigungsgrund. Dass viele den inhaftierten Ehemann, Freund oder Vater verschweigen, kann der Pfarrer gut verstehen. In Gesprächen mit Schulklassen stelle er zu Beginn immer zwei Fragen:
"Wie würde ich mit einem Vater im Gefängnis umgehen?
Und wie mit der Familie eines Inhaftierten?" Wenn der Gefängnisseelsorger drei Wünsche frei hätte, wären es diese: "In den JVAs noch mehr darauf schauen, was während der Haftzeit passiert; Alternativen zur Haft ausprobieren wie Ortungssysteme oder Sozialarbeit; und mehr Geld für Prävention ausgeben", zählt Walter auf. Ein Hafttag koste den Steuerzahler etwa 100 Euro pro Gefangenem – mehr davon in vorbeugende Maßnahmen investiert, könne viel bringen.
Und eine gnädigere Gesellschaft wünscht sich der Pfarrer auch. Als Ex-Knacki eine Wohnung zu finden sei oft "aussichtslos", die Firmen-Policy großer Konzerne streng. Größere Chancen hätten Strafentlassene bei mittelständischen Betrieben.
"Natürlich ist ein Risiko dabei, wenn ich einen ehemaligen Gefangenen einstelle", sagt Walter, der "demütig" geworden ist bei der Einschätzung, wer es "draußen" schafft oder nicht. Andererseits sei das Rückfallrisiko für Ex-Häftlinge geringer, wenn sie Arbeit hätten.
"Da rette ich als Arbeitgeber vielleicht ein Leben", sagt der Pfarrer.
Tür auf, Tür zu: Die Pforte der Torwache trennt zwei Welten. Drinnen der Vollzug mit sichtbaren und verborgenen Hierarchien, mit geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, mit vielen offenen Fragen. Draußen ist die Luft kalt und klar.