Wie muss sich Kirche verändern, Frau Preidel?
Annekathrin Preidel: Ich denke, wir müssen uns komplett neu aufstellen. Vieles davon zeichnet sich bereits am Horizont ab, ist aber noch nicht so deutlich. Das Prinzip der Sozialform unserer Kirche ist ein Prinzip aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit der industriellen Revolution, als sich politisch viel verändert hat. Jetzt sind wir in der Zeit der digitalen Revolution – erneut ändert sich viel. Die Lebenskonzepte und der Lebenskontext der Menschen sind in einem großen Wandel. Darauf muss die, Kirche reagieren, wenn sie nah bei den Menschen bleiben will. Als Netzwerk der Kirchengemeinden muss sie in der Fläche präsent sein, aber es müssen nicht mehr alle Gemeinden alles anbieten. Das "All you can eat"-Prinzip, das wir als Vollprogramm in den Kirchengemeinden anbieten, muss sich verändern.
"Viele Menschen sind auf der Suche nach Sinn und Geborgenheit."
Was heißt das konkret?
Wir müssen uns schwerpunktmäßig auf das konzentrieren, was sich die Menschen vor Ort wünschen. Wir müssen einige Themen weglassen und andere Themen stark machen, um den Kontakt zu unseren Mitgliedern und zu unseren Nicht-Mitgliedern zu stärken. Das wichtigste Thema unserer zukünftigen Arbeit sehe ich darin, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sich christliche Spiritualität als Kern unserer Identität entfalten kann. Viele Menschen sind auf der Suche nach Sinn und Geborgenheit. Sie hierbei zu begleiten und Erfahrungsräume für Gott zu öffnen, ist aus meiner Sicht einer der wichtigsten Schwerpunkte in der Zukunft. Wenn wir dem Gefühl der Ohnmacht, das die Menschen gerade in dieser krisengebeutelten Zeit empfinden, das Prinzip Hoffnung entgegensetzen, dann werden haben wir den Menschen etwas zu sagen, was sie nur bei uns finden werden.
Wo kann man da ansetzen?
Wir müssen schauen, wie wir die Menschen vor Ort neu erreichen können. Ein gutes Beispiel sind die Vesperkirchen. Deren Attraktion ist sehr groß: Eine warme Suppe, wenn es draußen kalt ist, ein neuer Haarschnitt, der nicht nur Würde verleiht, sondern bei dem auch über den Kopf und die Schuler gestrichen wird, das Teilen einer Brotscheibe in der Gemeinschaft einer Tischrunde - das alles drückt die Liebe und Leidenschaft für das Evangelium aus und vermittelt Nähe. Angesichts der Herausforderungen dieses bevorstehenden Winters tun wir gut daran, Kirchen frei zu räumen von Kirchenbänken und mit Esstischen ausstatten, um Orte der Wärme und Geborgenheit anzubieten. Orte, wo die Menschen sich treffen können, um über ihre Sorgen und Nöte sprechen. Eine anderes Beispiel sind Popup-Kirchen, wie etwa in Landshut. Dort präsentiert sich Kirche an einem Ort mitten in der Stadt, nicht in einem Kirchengebäude, mit diakonischen und Seelsorge-Angeboten. Damit ist Kirche wesentlich näher am Puls der Menschen.
"Wir müssen unsere Seelsorge-Angebote stark machen, um die Menschen zu trösten."
Wie reagiert die Kirche auf die aktuellen Krisen?
Wir haben im Haushalt einen Nothilfefonds, für Kirchengemeinden, die Menschen aufnehmen, die zu uns aus der Ukraine fliehen. Außerdem haben wir einen Energiefonds beschlossen. Mit ihm unterstützen wir Kirchengemeinden im Blick auf die Preissteigerungen für Energiekosten. Und wir unterstützen kleinere Sofortmaßnahmen im Bereich energetischer Gebäudesanierungen.. Allerdings müssen wir auch unsere Seelsorge-Angebote stark machen, um die Menschen zu trösten und ihnen in der Kirche und in den Gemeindehäusern Ankerpunkte zu bieten.