Eine Woche nach Veröffentlichung der ForuM-Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche kreist die Debatte nun um die notwendigen Konsequenzen. Die Kirche muss ihre Schlüsse daraus ziehen, dass es in ihrem Bereich weit mehr sexualisierte Gewalt gab als bislang angenommen. Die Studie spricht von mindestens 2225 Betroffenen und 1259 mutmaßlichen Tätern. Weil nicht alle relevanten Akten eingesehen werden konnten, muss man von einer weitaus höheren Zahl ausgehen.

Die hohe Zahl an Fällen pulverisiert das lange gepflegte Selbstbild der "besseren Kirche". Lange wollte man glauben, dass die evangelische Kirche mit ihrer liberalen Sexualmoral im Vorteil ist gegenüber der katholischen Kirche mit ihrem Zwangszölibat. – Sie ist es nicht, denn das progressive Milieu bot keinen Schutz.

Christliche Grundprinzipien wurden tausendfach verraten

Die Macher der Studie diagnostizieren der Kirche "Harmoniezwang" und "Konfliktunfähigkeit" im "Milieu der Geschwisterlichkeit". Die evangelische Kirche nehme sich selbst als sicheren Ort wahr, in dem sexualisierte Gewalt nicht vorkommen könne. Es ist der Kern des Problems: Dort, wo die evangelische Kirche am lebendigsten ist, in den Gemeinden, in der Jugendarbeit oder in diakonischen Einrichtungen, hat sie ein Umfeld geschaffen, das Missbrauch begünstigt – oft unter dem Deckmantel hoher moralischer Integrität oder Fortschrittlichkeit.

Erschütternd ist, wie tausendfach christliche Grundprinzipien verraten wurden, die Gottesebenbildlichkeit des Nächsten, die Ehrfurcht vor dem Leben, der Schutz und die Sorge für Schwächere – in vielen Fällen von theologisch geschultem Personal. Ebenso erschütternd ist, wie dabei das Hauptprinzip der evangelischen Theologie, die "Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch die Gnade Gottes", pervertiert wurde: Weil Gott bedingungslos vergibt, wurde Vergebung auch von den Opfern eingefordert – nicht selten unter Druck.

Die "Kultur des Schweigens" ist durchbrochen

Die geistliche Leiterschaft – egal, in welchem Gewand sie daherkommt – sollte deshalb bei einer Verbesserung bestehender Schutzkonzepte in den Blick genommen werden. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen könnte zum Heilmittel gegen gefährliche Abhängigkeiten aller Art werden.

Die bayerische Kirche steht beim Thema Missbrauch nicht am Anfang, sie ist auf dem Weg. Ein Oberkirchenrat, der seine Sekretärin missbraucht, ein Personalreferent, der kontaminierte Personalakten mit nach Hause nimmt und dann mit ins Grab, ein Landesbischof, der von alldem weiß, aber nichts dagegen macht, das sind Vorgänge, die Jahrzehnte zurückliegen. Seit 2020 hat die Landeskirche ein Präventionsgesetz und einen Stab von Mitarbeitern, die sich ausschließlich mit dem Thema Missbrauch befassen. Die "Kultur des Schweigens" ist durchbrochen, nicht erst durch die Studie. Aber das Thema muss die evangelische Kirche noch eine ganze Weile beschäftigen – auf allen Ebenen und in allen Gremien.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden