Waldeinsamkeit – dieses bereits in frühchristlicher Zeit aufgetauchte asketische Ideal ist bis heute ein geläufiger Begriff. Seine romantisierende Akzentuierung erlebte er durch Tiecks 1797 erschienene Novelle "Der blonde Eckbert". Ohne die Erlebnisse von Tieck und seinen im selben Jahr geborenen Schulfreund Wilhelm Heinrich Wackenroder in Bamberg, Erlangen, Fürth und Nürnberg wäre nicht nur dieses Kunstmärchen undenkbar.

Die beiden Literaturwissenschaftler Roland Borgards und Jörg Bong beschreiben in ihrem anlässlich des 250. Geburtstags von Tieck erschienen Buch "Wilde Geschichten" bereits den jungen Tieck, wie er sich schon im Alter von 19 Jahren durch das Lesen eines Schauerromans für Literatur elektrisieren lässt. An seinen Jugendfreund schreibt er, der bis dato noch nichts aus eigener Feder publiziert hatte, von seiner "Lese-Ekstase" in bildreicher, empathischer Weise, die den späteren Dichter erahnen lässt.

Das war im Sommer 1792. Wenige Wochen vorher hatte er in Halle mit dem ersten Semester in Geschichte und Literatur begonnen, 1793 zieht es ihn zusammen mit Wackenroder zuerst nach Göttingen. Während Tieck, Sohn eines Seilermeisters sich in Philologie einschreibt, muss sein Freund als Sprössling des Ersten Berliner Justizbürgermeisters den Rechtwissenschaften nachgehen. Eine wohl bleierne, langweilige Zeit, der die Beiden durch einen Ortswechsel nach Erlangen entfliehen wollen.

Sehnsuchtsziele deutscher Kunst aufgesucht

Das gemeinsame halbe Jahr 1793 in der Hugenottenstadt hat der Historiker und Zeitgenosse Rudolf Köpke in seiner Tieck-Biografie eindrücklich beschrieben. Demnach hätten die Dichter zu Ostern beschlossen, in das fränkische Städtchen an die Landesuniversität zu gehen, die frisch im preußischen Besitz war. Doch eigentlich haben die Beiden neben den Studien vor, ein "innigeres und doch freieres" Leben zu führen. Die Region rund um Erlangen sei wegen der Natur des fränkischen Landes und wegen der altehrwürdigen Stätten deutscher Kunst mit seinen Ruinen und Burgen besonders reizvoll gewesen. Köpke schreibt, dass zudem das Fichtelgebirge, das Maintal sowie die Städte Bamberg und allen voran Nürnberg Sehnsuchtsziele darstellen.

"Wie reich an Denkmalen aller Künste war nicht diese Stadt, mit ihren Kirchen St. Sebald und St. Lorenz, mit ihren Werken von Albrecht Dürer, von Vischer und Krafft", versucht Köpke die Begeisterung der Dichter nachvollziehbar zu machen. Auf der alten Reichsstadt mit ihren Wundern und Wunderlichkeiten habe der Duft der Poesie gelegen, "den der Zugwind neuer Politik und Aufklärung an andern Orten längst verweht hatte." Tieck und Wackenroder besuchen Kirchen und Kirchhöfe, stehen am Grab Dürers und an dem von "Meistersinger" Hans Sachs. Der Ortswechsel wird auch künstlerisch fruchtbar, inspiriert er die Beiden doch zu "Franz Sternbalds Wanderungen" (Tiecks 1798 erschienener Künstlerroman) und dem Gemeinschaftswerk "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" (1796).

Die beiden Protestanten erleben in Bamberg ein Hochamt mit Prozession und sind begeistert vom Ästhetizismus der katholischen Zeremonie. Diese Faszination findet auch immer wieder Einzug in das Werk Tiecks – etwa in seiner Novelle "Der Runenberg" aus dem Jahr 1804, in dem der Protagonist ganz ergriffen ist vom Orgelklang und der Predigt eines Priesters bei einem Gottesdienst – ein Szenario, das schwärmerisch umschrieben wird.

Die Romantiker und das Christentum

Auch wenn die Auseinandersetzung der frühen Romantiker mit dem Christentum, insbesondere des Katholizismus immer eher oberflächlicher, auf Äußerlichkeiten eingehender Natur ist, wird Kirche durchweg positiv dargestellt – mehr noch, scheint bei Tieck die synästhetische Erfahrung von gemeinsamem Gebet und Singen den Menschen an sich an seinen Ursprung zu bringen, eine eherne Wahrheit erfahren.

Sein Freund Wackenroder sieht die Künste und Religionen der Welt in einer Gleichrangigkeit vor Gott, wie der in Würzburg promovierte Literaturprofessor Silvio Vietta in einer Biografie anlässlich des 250. Geburtstags von Friedrich von Hardenberg alias "Novalis" im Jahr 2022 in einem Kapitel über Tieck und Wackenroder schreibt. Zusammen mit Novalis hätten die das Ideal einer "frühromantischen Kunstreligion" erdacht, inspiriert durch das Treffen von "üppig-katholischer Kultur" auf die beiden "Studenten aus dem bilderfeindlichen Protestantismus Preußens".  

Kunst wird selbst Religion. In deren Mystik verbirgt sich für die Dichter der Romantik, wie auch für Novalis, ein Geheimnis, wie es in ihrer von den Gedanken der Aufklärung geprägten Gegenwart verloren gegangen scheint. Bei Novalis gehen Fantasie und Religion sogar eine Symbiose ein, mit der er dem Rationalismus seiner Gegenwart, angetrieben durch den fortschreitenden Niedergang des Katholizismus durch die Französische Revolution und die darauf folgende napoleonische Politik, etwas entgegensetzen will.  In seinem 1799 erschienenen Essay "Die Christenheit und Europa" gibt Novalis allerdings auch Martin Luther eine Mitschuld an dieser Entwicklung. Der Protestantismus kenne "keine herrlichen, großen Erscheinungen mehr". Das Weltliche habe die Oberhand gewonnen, der Kunstsinn leide sympathetisch mit. Novalis kommt zu dem Schluss: "Mit der Reformation wars um die Christenheit gethan."

Allein im Wald und Zoff mit Soldaten

Wackenroder und Tieck erleben während ihrer Monate in Erlangen auch einige Abenteuer. Zu Pferd machen sie sich um Pfingsten nach Bayreuth auf, verloren sich im angrenzenden Fichtelgebirge im Wald und bekamen es gehörig mit der Angst zu tun, als es Nacht wurde. Wie Rudolf Köpke schreibt, geht das Erleben der Waldeinsamkeit gut aus und setzt bei Tieck poetischen Impetus frei, der sich in seinen darauf entstandenen Texten wieder findet. Wenig später treffen sie in Fürth auf eine Schauspieltruppe und Soldaten, die miteinander in Streit geraten. Tieck greift ein, wird handgreiflich gegenüber einem Vertreter der Reichstruppen und muss sich fast duellieren.

Zum Ende des Sommers 1793 beschließen die Freunde dann aber, Erlangen wieder den Rücken zu kehren, da "die Aussicht auf den Winter dort nicht gerade reizend war", wie Köpke weiter schreibt. Die intensive und fruchtbare Zeit für Tieck und Wackenroder in Franken geht zu Ende. Die Werke aber, die ohne das Sommersemester in der Dürerwelt des Mittelalters wohl nie in dieser Form entstanden wären, bleiben. Nur ein Jahr später wird Tieck seine Studien vorerst beenden und sein Leben vordringlich dem Schreiben und dem Kunstbetrieb widmen.

Früher Tod contra langes Leben

Wackenroder stirbt 1798 mit nur 24 Jahren an Typhus. Tieck lebt noch stolze 55 Jahre länger – und machte Karriere. Zusammen mit den Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Novalis, Clemens Brentano, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schelling bildet er zum Jahrhundertwechsel mit dem "Jenaer Kreis" eine "romantische Denkfabrik". Er übersetzte unter anderem Shakespeare und Cervantes, arbeitete als Herausgeber und Dramaturg in Dresden und publizierte weiter eigene Werke.

Die Aufbruchstimmung der Romantik währte aber nur wenige Jahre. Ludwig Tieck wollte laut Biograf Köpke ein Leben für die Poesie leben, unbeeindruckt vom Zeitgeist: "Den Dichterischen war er zu kritisch, den Kritischen zu dichterisch, den Protestanten zu katholisch, den Katholiken zu protestantisch, den Aufgeklärten seiner Jugend zu religiös, den Frommen seines Alters zu aufgeklärt, den Liberalen galt er für servil, den Legitimen für einen Oppositionsmann", resümiert er. 1841 folgte der in Kunstkreisen berühmt gewordene Tieck einem Ruf von König Friedrich Wilhelm IV in die alte Heimat, der dann dem Trauerzug des am 28. April 1863 verstorbenen Dichters bei dessen Beerdigung voranritt. 1999 wird ein Asteroid nach Tieck benannt.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden