Kunstschaffende aus Russland haben es in diesen Tagen schwer - nicht nur in der eigenen Heimat, wenn sie nicht gerade mit der Regierung sympathisieren, die seit fast einem Jahr gegen die benachbarte Ukraine Krieg führt.

Anastasia Patlay war noch nie auf Linie und hat trotzdem ihr Ding gemacht. Die junge Theaterregisseurin ist als erste Künstlerin im neuen "Artist’s-at-Risk-Residency"-Programm der Stadt Augsburg vom 8. Februar bis zum 30. November in der neuen Künstlerwohnung im Brechthaus zu Gast. In den kommenden Monaten hat sie dort viel vor.

Ihre Kunst war schon immer politisch

Ihre Kunst und ihr Verständnis des Ausdrucks seien schon immer politisch gewesen, erklärt die Moskauer Theaterregisseurin und Autorin, die 1975 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent geboren ist. Sie sei in Zeiten von Gorbatschow und Perestroika groß geworden, habe aber als junge Frau feststellen müssen, dass die russische Demokratie nur ein Trugbild war. Nicht erst seit Putin.

"Schon unter Boris Jelzin wurden ab 1993 die demokratischen Werte gegen Imitationen verkauft", sagt sie.

Immer wieder seien zwar Künstlerinnen und Künstler von staatlicher Seite gefördert worden, aber man habe sich mit einer Offenheit geschmückt, die sich später als aufgesetzt entpuppte. Ganze Ensembles seien regelrecht von der Bühne gestoßen worden, wenn sie sich zu systemkritisch zeigten. Regisseure seien unterdrückt worden, indem sie Fördergelder plötzlich zurückzahlen oder mit unter fadenscheinigen Gründen ausgesprochenen Auftrittsverboten kämpfen mussten.

Mit der Annexion der Krim wird Repression schärfer

Seit 2014 spätestens habe sich der Ton im Lande verschärft. Etwa zeitgleich mit der Annexion der Krim seien die Arbeitsbedingungen für freigeistige Kunstschaffende immer schwieriger geworden. Viele wählten den Weg ins Exil. Anastasia Patlay vergleicht diese Bewegung mit der Flucht deutscher Dichter und Denker in den 1930er-Jahren vor den Nazis. Ebenso wie damals, als sich in Deutschland einige zu Hause gebliebene Künstler mit dem System solidarisierten oder zumindest unpolitisch weiter wirkten, sei auch die kulturelle Landschaft in Russland heute zweigeteilt - auf der einen Seite die Regimetreuen, auf der anderen Seite die Kritiker.

Zur zweiten Gattung gehört Patlay, die seit vielen Jahren für Teatr.doc arbeitet. Das unabhängige Theaterkollektiv mit Sitz in Moskau hat sich auf Dokumentartheater und die Verarbeitung politischer Themen spezialisiert. Zwischen 2016 und 2019 hat sie das Programm "Archäologie der Erinnerung" im Sacharow-Zentrum in Moskau kuratiert sowie eine Reihe von Dokumentarstücken zu sozialen, politischen und historischen Fragen inszeniert. Ihre Performance mit dem Titel "Memoria" erzählte die Geschichte der Gründung und Auflösung der russischen Rechtsverteidigungsorganisation "Memorial".

Emotionale Lebensberichte

Die Künstlerin geht auch gern ungewöhnliche Wege: Für eines ihrer jüngsten Projekte sprach sie emotionale Lebensberichte verschiedener Menschen, die ihr über einen Kopfhörer ins Ohr gingen, für das Publikum nach und versetzte sich in Tonfall, Geschwindigkeit und Ausdruck zu einer eindringlichen Performance.

Schon vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat Patlay für sich auch den Weg ins Exil gewählt. Sie lebt seit einigen Jahren in Spanien, von wo aus sie Kontakt zu Kollegen in der alten Heimat hält. Doch auch in deren Nachbarländer: Derzeit arbeitet sie am Projekt "Neighbours", bei dem Kollegen aus Belarus, Polen und der Ukraine mit ihr die eigene Sichtweise auf den Krieg in persönlichen Stücken verarbeiten.

"Ich gebe nur den Rahmen vor, jeder ist frei in der Umsetzung. Zusammen kommt dann ein rundes Gesamtbild heraus", erklärt sie.

Das wäre ganz im Sinne Bertolt Brechts. Der vor 125 Jahren in Augsburg geborene Dramatiker und Dichter, dessen Ideen und Werke gerne in einer sozialistischen Lesart gedeutet werden, habe in seinen Stücken wie der "Dreigroschenoper" (1928) oder "Der gute Mensch von Sezuan" (1943) immer verschiedene Perspektiven auf eine dramatische Handlung eingenommen. Ein Vorbild für sie und auch viele Theaterleute in Russland sei Brecht, und das schon seit Generationen. "Er wird immer wieder neu von jungen Künstlern entdeckt und gedeutet", versichert Patlay.

Leben und kreativ wirken in Augsburg

Dass sie in der unbewohnten Wohnung im Geburtshaus des Dichters residiert, wurde im Zuge eines Hospitationsprogramms vom Goethe Institut und dem Brechtbüro der Stadt Augsburg initiiert. Hier wird Patlay nicht nur für die kommenden Monate leben, sondern auch kreativ wirken. Ihr schwebt ein animierter Film vor, der aus dem "Neighbours"-Projekt entstehen soll. Zudem ist sie auch am noch bis zum 19. Februar laufenden Brechtfestival 2023 beteiligt. Ein Gastspiel beim Festival des kommenden Jahres ist im Gespräch.

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