Nur zu Gottesdiensten und zu besonderen Führungen in der Stadtkirche holt Klaus Limbacher die 1532 in Wittenberg gedruckte Lutherbibel aus dem Safe. Der Schriftführer des "Förderkreises Kirchenbibliothek" der evangelischen Kirchengemeinde Neustadts legt sie dann neben zwei weiteren Bänden aus dem seit über 500 Jahren unverändert gebliebenen Bestand in eine Vitrine, über der Fotos weiterer kostbarer Stücke aus dem gotischen Kreuzrippengewölbe über der Sakristei – dem Receptaculum – hängen, die Limbacher selbst gemacht wird. "Wenn man die Leute nicht immer wieder an die Bibliothek erinnert, wird sie vergessen", erklärt er besorgt.

Die Bücher mussten aus statischen Gründen dort oben ausgelagert werden. Außerdem erhält die Kirche eine neue Elektrik und Alarmanlage.  Ein weiterer Abschnitt mit Büchern etwas jüngeren Datums lagerten lange im "Kärnter", dem ehemaligen Beinhaus des um die Kirche, wo sie ebenfalls nicht mehr bleiben konnten. "Für diesen Bestand muss auch noch ein neuer Platz gefunden werden", meint Limbacher. In sicherer Verwahrung warten die Werke in Nürnberg darauf, eines Tages wieder zurück nach Neustadt zu kommen.

Über 5500 Drucke aus den Jahren 1470 bis 1800

Insgesamt umfasse die von Reinhold Ohlmann seit 1965 verwaltete Neustädter Kirchenbibliothek über 5500 historische Drucke aus den Jahren 1470 bis 1800 und weitere 5000 Bände aus der Zeit nach 1801. Die Ursprünge liegen in einer erstmals 1438 erwähnten Lateinschule. Mönche des ehemaligen Franziskanerklösterchens St. Wolfgang verbrachten 1525 die Bibliothek im Bauernkrieg vor die Tore der Stadt in ihr Domizil, wo heute der Friedhof ist. 500 Jahre lang sammelten die Geistlichen des Neustädter Kapitels in der Folgezeit die Neuerscheinungen verschiedenster Wissensgebiete und stifteten Pflichtexemplare in die Bibliothek. Der Bestand enthält rund 250 Inkunabeln und ebenso viele Handschriften ab dem 12. Jahrhundert, aber auch Holzschnitte, Kupferstiche, Urkunden, Karten und eine exquisite Exlibris-Sammlung.

historische Bücher aus dem Bestand der Neustädter Kirchenbibliothek
Zwei historische Bücher aus dem Bestand der Neustädter Kirchenbibliothek, die auf eine Restaurierung warten.

Das älteste Stück ist ein Fragment aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts in karolingischer Minuskel: Josephus Flavius’ De Bello Judaico. Neben Werken der Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon ragt der Prachtband der in Nürnberg gedruckten "Schedelschen Weltchronik" aus dem Jahre 1493 mit fast 2000 farbigen Holzschnitten aus der Werkstatt von Michael Wolgemut, wohl auch mit Arbeiten des jungen Albrecht Dürer, heraus. So wertvolle Bücher in einem kahlen Raum? "Die dicken Sandsteinmauern bieten ein ideales Raumklima. Wir haben hier seit Jahrhunderten keinerlei klimatischen Probleme", versichert Mück.

Vergleichbare Bibliotheken nur in Schwabach und Isny

Der 2019 gegründete Förderverein unterstützt in Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde und dem Dekanat die Wiederaufstellung vor Ort und sammelt Geld für die Restaurierung schadhafter Bücher, "um sie Laien wie Forschern aus aller Welt wieder zugänglich zu machen und um sie in ihrer historischen Ganzheit sichtbar und erlebbar werden zu lassen", sagt Wolfgang Mück. Auch die Landeskirche habe die finanzielle Förderung zugesagt. Vergleichbare Bibliotheken gebe es in Bayern allenfalls noch in Isny und in Schwabach, so der Vereinsvorsitzende.

Bis vor wenigen Jahren gehörte es für angehende Konfirmandinnen und Konfirmanden mit dazu, den durch zwei schmale hohe Fenster spärlich belichteten Raum von der Empore aus zu betreten, den Geruch von Papier und Leder zu schnuppern und sich in der mittelalterlichen Bücherklause umzusehen. Auch Mück und Limbacher hatten als junge Buben diesen "Pflichtbesuch" absolviert. "Diese Eindrücke vergisst man nie im Leben", sind sich die beiden einig. Wenn die Bücher wieder in Neustadt zurück sind hoffen sie, dass ein Gang in die Kirchenbibliothek wieder zur Normalität wird. Dann sind auch die bis in die Spitze des Gewölbes reichenden, originalen Regale aus dem 17. und 18. Jahrhundert restauriert.

Blick in die leere Neustädter Kirchenbibliothek
Blick in die leere Neustädter Kirchenbibliothek: Auch die Regale sind erhaltenswürdig und werden restauriert.