Die Münchner Kulturelite hatte sich vergangene Woche versammelt. Im gedämpften Licht des Residenztheaters lauschten sie der einzigen deutschen Buchvorstellung von "Die Rückseite des Lebens" – dem neuen Roman von Yasmina Reza.

Sie, spätestens seit "Gott des Gemetzels" weltbekannt, trat in einem elegant geschnittenen Zweiteiler in leuchtendem Orange auf und sprach ausschließlich Französisch.

Frankreich, mon amour! 

Im Publikum nickten die Köpfe synchron, an den passenden Stellen wurde gelacht – auffällig lange, fast demonstrativ. Als wollte jede*r beweisen: Ich gehöre dazu, ich bin frankophil.

Wer, wie mein Vater und ich, mit einem nutzlosen Graecum und Latinum ausgestattet da saß, blieb außen vor. Eine Enklave Paris mitten in München, und wir saßen mittendrin, aber doch hermetisch abgeriegelt.

Der Brückenbauer im Schneckentempo

Unser Lachen kam – wenn überhaupt – mit Verzögerung, dann, wenn der Moderator uns einen sprachlichen Steigbügel reichte. Ob dieser aber übersetzte oder interpretierte, blieb oft unklar.

Der Moderator, ein emeritierter Literaturkritiker, genoss seine Rolle als Brückenbauer sichtlich. In einem Tempo, das sich mit 0,5-facher Geschwindigkeit beschreiben ließe, übertrug er seine eigenen Bandwurmsätze ins Französische und Rezas knappe Antworten ins Deutsche – eine Übersetzungsprozedur, die sich zog wie zäher Honig.

Yasmina Reza und ihr Blick hinter die Fassade

Dabei waren wir doch hier, um ihr zuzuhören. Der Schöpferin dieses fragmentarischen Meisterwerks, das Szenen aus Gerichtssälen, Lebensgeschichten und Körperhaltungen festhält – Momentaufnahmen aus dem Hinterzimmer des Daseins. Yasmina Reza ist eine Chronistin der Unsichtbaren, ihre Beobachtungen sezieren alles, was sie umgibt, präzise und unerbittlich.

Erst als die Schauspielerin Juliane Köhler aus dem Buch las – auf Deutsch, direkt und unvermittelt –, kam Bewegung in den Abend. Doch das Ritual blieb starr: Der Moderator fragte, übersetzte, Reza antwortete, Moderator übersetzte, Köhler las, wir lauschten.

Zwei Stunden lang. In einer Zeit, in der Simultanübersetzung zum Standard gehört, war das eine echte Herausforderung für das eigene Nervenkostüm.

Was Sprache verrät – und was nicht

Obwohl ich kein Wort Französisch verstand, hing ich an Rezas Lippen. Ihre Worte machten vielleicht nur 30 Prozent des Abends aus, aber ihre Präsenz sprach für sich. Ihre Pausen, ihre Mimik, ihr Rhythmus – sie erzählten eine eigene Geschichte.

Dagegen wirkte die deutsche Übersetzung fast übergriffig, wie ein Parfüm, das zerstäubt wird, während jemand danebensteht und erklärt, wie es riecht. Sprache wurde hier zum Statussymbol, zum Distinktionsmerkmal einer intellektuellen Elite.

Sprache ist kein Prestigeobjekt

Dass in Deutschland viele Menschen leben, die mühelos mehrere Sprachen sprechen, daran denkt in so einem Moment niemand. Zum Beispiel die tunesische Krankenschwester, die Arabisch, Französisch und Deutsch kann.

Sprache ist kein Prestigeobjekt. Sprache ist ein Mittel – um das Leben zu durchdringen, um wie Reza auch die Rückseite des Lebens sichtbar zu machen.

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