Was wissen Sie über die Konzentrationslager der Nationalsozialisten? Und mit "wissen" meine ich nicht Fakten über Todeszahlen oder Gräueltaten. Zu meiner Schulzeit haben wir die KZ-Gedenkstätte in Dachau besucht.

Ich kann mich erinnern, dass ich es ungefähr so gruselig fand wie einen Schlachthof. Und das waren KZs ja oft. Aber emotional berührt war ich vom Besuch nicht wirklich. Zumindest nicht nachhaltig.

Es ist jetzt über vier Wochen her, dass das Buch "Ich habe den Todesengel überlebt" ausgelesen auf meinen Schreibtisch liegt. Seit einem Monat verfolgt mich die Lebensgeschichte von Eva Mozes Kor, die mit ihrer Zwillingsschwester Miriam die Zwillingsexperimente von Dr. Josef Mengele überlebte, als einzige ihrer rumänischen Familie. Der größte Teil des Buches beschreibt die Ankunft und die Zeit im Konzentrationslager:

"In Auschwitz zu sein, das war, als erlitte man jeden einzelnen Tag einen Autounfall. Jeden Tag passierte etwas Beängstigendes."

Zwillingsexperimente in Auschwitz

Direkt nach ihrer Ankunft werden Eva und Miriam von ihren Eltern und zwei älteren Schwestern getrennt und in eine besondere Baracke gebracht, denn zwischen 1943 und 1945 war Josef Mengele Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau. Er führte nicht nur Experimente an Häftlingen durch, sondern sein Interesse galt besonders der Zwillingsforschung.

"Ich begriff diese als den Preis, den wir fürs Überleben zahlen mussten: Wir überließen ihnen unser Blut, unseren Körper, unseren Stolz, unsere Würde, und im Gegenzug ließen sie uns einen weiteren Tag leben."

Vergebung als Weg der Selbstbefreiung

Miriam und Eva überleben die Zeit im Konzentrationslager, das am 27. Januar 1945 von der sowjetischen Armee befreit wird. Damit könnte das Buch enden. Tut es aber nicht und genau das ist die Stärke der Neuausgabe.

Statt ausschließlich über die furchtbaren Taten der Nationalsozialisten zu schreiben, folgt ein Epilog über das Leben von Eva Mozes Kor, ihren Kampf gegen die Erinnerungen und ihren besonderen Weg der Vergebung. Dadurch bleibt sie nicht Opfer, sondern bestimmt ihren Lebensweg selbst:

"Viele Menschen sind in Schmerz und Zorn gefangen. Leider hilft das den Überlebenden nicht, und das allein ist mein Anliegen. Meine Vergebung hat nichts mit den Tätern zu tun. Sie ist ein Akt der Selbstheilung, Selbstbefreiung und Selbststärkung. Sie kostet nichts, hat keine Nebenwirkungen und funktioniert. Ich empfehle jedem wärmstens, es auszuprobieren."

Der Epilog und das Nachwort schildert die Arbeit, die Eva Mozes Kor als Erwachsene leistet, um an den Holocaust zu erinnern. Sie eröffnete ein Museum, hielt Vorträge und Reden.

Kaum eine Lebensgeschichte hat mich so beeindruckt wie diese. Natürlich weiß ich von den schrecklichen Taten der Nationalsozialisten, aber sie durch die Augen von jemand anderem zu sehen, ist etwas völlig anderes. Wie viele der Zeitzeugen ist auch Eva Mozes Kor inzwischen verstorben. Was sie uns hinterlässt, ist unter anderem dieses Buch.

Mir wurde beim Lesen immer wieder bewusst, wie wichtig es ist, die Augen nicht zu verschließen. Von den Misshandlungen, Ermordungen und dem Leid der Protagonistin zu lesen, war nicht leicht und ging mir nahe.

Die Zeit des Nationalsozialismus ist in meinem Alltag weit weg. Doch sollte sie viel präsenter sein, damit ich heute nicht wegsehe, wenn mir Ungerechtigkeit, Rassismus und Antisemitismus begegnen.

"Zorn ist die Saat des Krieges. Vergebung ist die Saat des Friedens."