Die Contergan-Affäre gilt als folgenschwerster Arzneimittelskandal in der Geschichte der Bundesrepublik. Vor 60 Jahren, am 26. November 1961, wurde der Skandal bekannt. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan der Firma Grünenthal war von 1957 bis 1961 auf dem Markt. Der Wirkstoff Thalidomid hatte fatale Folgen für die Entwicklung von Embryos: Schwangere, die das rezeptfrei erhältliche Mittel auch gegen Übelkeit einnahmen, brachten Kinder mit schweren Missbildungen an Armen und Beinen zur Welt.

Der Münchner Künstler und Fotograf Christian Knabe ist einer der Contergan-Geschädigten. Wir haben mit ihm über seinen persönlichen Umgang mit der Situation, die Verantwortung von Staat und Gesellschaft sowie seine Kritik am Verband der Contergan-Geschädigten gesprochen.

Wie war das, als Contergan-Geschädigter aufzuwachsen?

Christian Knabe: Als Kind wusste ich überhaupt nicht, was das sein sollte. Ich wusste nur, ich werde zu einer komischen Einrichtung geschickt, im Zentrum von München.

Wie alt waren Sie da?

Knabe: Zweieinhalb oder zwei. Ich konnte noch nicht laufen. Das habe ich erst später gelernt, weil mir die Arme für die Balance gefehlt haben. Deswegen kann ich mich daran erinnern. Und in der Einrichtung waren dann auch andere Kinder. Das war irgendwie komisch, man könnte das als Soldaten-Training bezeichnen. Ich sollte als Allererstes irgendeine Sprossen-Wand hochklettern. Ich habe mich geweigert.

Was war der Zweck dieser Einrichtung?

Knabe: Wir wurden trainiert. Uns wurde erzählt, wir wären schwach. Uns wurde erzählt, wir könnten nicht balancieren. Wir hätten Probleme mit dem Gleichgewicht, und was wir nicht noch alles für Probleme hätten. Das meiste war erstunken und erlogen oder schlecht hingeguckt.

"Durch Contergan sind die Menschen darauf aufmerksam geworden, dass Kinder auch Menschen sind, dass sie ein Recht auf Leben haben."

Die Gesellschaft war also nicht in der Lage, mit den durch den Contergan-Skandal Geschädigten umzugehen?

Knabe: Die Leute damals waren völlig durcheinander. Und wir mussten das ausbaden. Es wurde etwas erfunden, was heute selbstverständlich ist: Frühförderung. Durch Contergan sind die Menschen darauf aufmerksam geworden, dass Kinder auch Menschen sind, dass sie ein Recht auf Leben haben. Ich habe noch erlebt, wie mich mein Grundschullehrer in der vierten Klasse mit Absicht durchfallen ließ, als es ums Gymnasium ging. Und als ich mich beschwert habe, hat er gesagt: So einer wie du braucht doch nicht aufs Gymnasium zu gehen. In der Zeitschrift ‚Das behinderte Kind‘ stand, Contergan-Kinder werden mit Erreichen der Pubertät sterben. Wenn sie das nicht tun, sind die meisten steril oder impotent. Wenn sie doch irgendwie Kinder zeugen werden, dann werden die auch behindert sein. Und wenn sie nicht behindert sind, werden die Kinder einen psychischen Schock bekommen, wenn sie ihre Eltern sehen. So sind wir aufgewachsen.

Wie haben Sie auf solche Erfahrungen reagiert? Mit Rückzug?

Knabe: Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen, und da kann man sich nicht verstecken. Ich war im Fußballverein, zum Beispiel. Ich habe mit den anderen Kindern gerauft. Ich war auf einer ganz normalen Grundschule, auf einem ganz normalen Gymnasium bis zur Zehnten. Ich würde gerne sagen, vorzeitig wegen guter Führung entlassen, aber ich bin gegangen, bevor man mich rausgeschmissen hat.

Warum rausgeschmissen?

Knabe: Ich konnte nicht mehr. Ich hatte einen Vater, der immer geschimpft hat, weil ich ihm nie genügt habe. Dabei war er selber ein Versager, der Arme. Jedenfalls hatte ich keinen Rückhalt zuhause. Und dann bin ich Grafiker geworden.

Christian Knabe

Christian Knabe wurde am 11. Oktober 1961 in Mühldorf am Inn geboren. Seine Mutter hatte das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan während der Schwangerschaft eingenommen, Knabe ist einer der Geschädigten.

Von 1978 bis 1981 wird er an der Berufsfachschule für Grafik und Werbung in München zum Grafikdesigner ausgebildet. Er widmet sich aber anschließend zunächst der Kunst. Ende der 90er Jahre wird er Pressefotograf. Einige Jahre arbeitet er für den Evangelischen Pressedienst und das Sonntagsblatt.

Mitte der 90er-Jahre fängt er wieder an zu zeichnen. Heute hat er ein Atelier und lebt in München und Mühldorf. 

Als Sie ungefähr 10 waren, hat Ihr Vater Ihnen gestanden, dass er es war, der Ihrer Mutter das Contergan ins Essen gemischt hat.

Knabe: Ja. Ich mag das Wort Schuld nicht. Es war ein Unfall. Er hat mir gesagt, dass er glauben musste, dass das als harmlos galt. Ich habe es nachgeprüft. Es war so. Man kann von seinen Eltern nicht verlangen, dass sie Pharmazie studiert haben, bevor sie miteinander ins Bett gehen.

"Diese bösen Contergan-Kinder, jetzt verlangen die schon wieder etwas."

Der Prozess gegen die Verantwortlichen der Firma Grünenthal wurde eingestellt. Hat der Staat sich denn um die Contergan-Geschädigten gekümmert?

Knabe: Nein. Da gab es zwar 1976 ein Gerichtsurteil des Verfassungsgerichtes, da steht drin: Die Contergan-Opfer haben im Staat einen zahlungswilligen und zahlungsfähigen Schuldner gefunden. Es wurde auch festgestellt, dass der Staat immer wieder nachschauen müsse, wie es den Opfern geht und ob die Versorgung noch angemessen ist. Hat man aber alles nicht gemacht. Und noch 2008 stand auf dem Server vom Bundestag: Wenn die Contergan-Opfer kommen und mehr Geld verlangen, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Die sind sowieso alle entmündigt.

Das klingt zynisch.

Knabe: Es gibt noch mehr. Medizinische Studien, die abgebrochen wurden. Die Anerkennung von Schäden, die sie nicht wollen, weil es Geld kosten würde. Diese bösen Contergan-Kinder, jetzt verlangen die schon wieder etwas. Ich verlange nur eins: Ein Leben wie alle anderen auch.

2007 haben Sie Sebastian Wirtz, den damaligen Geschäftsführer von Grünenthal getroffen. Wie kam es dazu?

Knabe: München ist auch manchmal nur ein Dorf. Eine Frau von der Süddeutschen Zeitung war eine Stammtisch-Schwester von mir. Deren Sohn hat ein Interview mit Sebastian Wirtz gemacht, und seine Mutter hat ihn zu mir geschickt. Sebastian Wirtz hatte ihm im Interview gesagt, er kenne kein Contergan-Opfer persönlich – und da habe ich ihm geschrieben, das kann man ja ändern. Lassen Sie uns doch eine Tasse Kaffee zusammen trinken. Das wiederum haben die dann bei "Hart aber fair" vorgelesen – und dann konnten die nicht mehr zurück. Und dann haben wir wirklich zwei Tassen Kaffee getrunken. Über den Inhalt des Gesprächs haben wir Stillschweigen vereinbart. Aber eine Sache darf ich doch sagen: Sein erster Satz war: ‚Die Contergan-Opfer werden schlecht vertreten.‘ Und das ist bis heute so.

Sie meinen den Verband der Contergan-Geschädigten. Was werfen Sie ihm vor?

Knabe: Was dieser Verein macht, ist so ein Blödsinn. Die saßen mal bei einer Versammlung. Irgendjemand, der bei der Post arbeitete, wollte zur Kur und die Post hat sich geweigert das zu bezahlen, weil der kriegt doch Contergan-Rente. Sie hätte es trotzdem zahlen müssen und das wusste jeder. Aber die vom Verband standen da: Um Gottes willen, was können wir machen? Die zahlen das nicht. Wir sind ja so arm dran. Da ist keiner hingegangen und hat gesagt: Wir sind hier der bayerische Landesverband und jetzt schreiben wir einen Brief und sagen denen, dass das nicht geht. Guck, da ist der Paragraph. Es ist wie im Dschungelbuch, von der Schlange hypnotisiert. Das ist das Problem der Contergan-Opfer: Die Hilflosigkeit.

"Die Welt ist einmalig schön. Es ist ein Wunder. Und ich denke, dass auch Contergan-Opfer Wunder sind."

Wie sehr hat Contergan Ihr eigenes Leben geprägt?

Knabe: Es gibt diesen roten Faden Contergan in meinem Leben, und es gibt ihn nicht. Die Vorstellung, es gäbe die Gruppe der Contergan-Opfer in Deutschland, ist ein Irrtum. Das ist nicht der FC Bayern, sondern das sind 2500 einzelne Menschen. Wissen Sie, die Welt ist einmalig schön. Es ist ein Wunder. Und ich denke, dass auch Contergan-Opfer Wunder sind. Jeder einzelne.