Behinderte Menschen in Einrichtungen der Rummelsberger Diakonie lebten noch in den 1970er Jahren in einer "totalen Institution". Es existierte eine "Welt des Stabes" und eine Welt der "Insassen", stellt eine vorgestellte Forschungsarbeit mit dem Titel "Es sollte doch alles besser werden" der Rummelsberger Diakonie dar. Es sei zwar schon von einer Öffnung von Einrichtungen die Rede gewesen, aber vollzogen wurde sie nicht. Es sei erschreckend, dass trotz heilpädagogischer Konzepte ab den 1970er Jahren "sich die Dinge quälend langsam änderten", sagte der Historiker und Mitautor Hans-Walter Schmuhl.

Unter die verschiedenen Formen der Gewalt, die gegen Bewohner angewendet wurden, zählt die Untersuchung auch "medikamentöse Gewalt". In der Behindertenhilfeeinrichtung Auhof (Landkreis Roth) der Rummelsberger Diakonie hat im Jahr 1975 ein Medikamententest an neun Jungen zwischen neun und 14 Jahren stattgefunden. Für die Gabe des Medikaments Nomifensin, eines Antidepressivums, durch den damaligen Anstaltsarzt konnte die Wissenschaftlerin Sylvia Wagner bei ihrer Recherche keine nachvollziehbaren Gründe finden.

Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen bis in die 1970er Jahre

Auch fand sie keine Einwilligungen der Eltern oder von gesetzlichen Vertretern der Jungen zu der Arzneimittelprüfung, obwohl auch das bereits 1975 ethisch und gesetzlich festgeschrieben war. Fast alle betroffenen Buben seien als sehr fröhlich beschrieben worden. Nach der Gabe des Nomifensins ist von Nebenwirkungen die Rede, in einem Fall so stark, dass das Kind in ein Krankenhaus musste. Das Medikament wurde erst 1976 unter dem Namen Alival zugelassen und 1986 vom Markt genommen. Keinen Zugang bekam Wagner in die Archive des Pharmaunternehmens Hoechst AG (heute Sanofin), des Herstellers des Mittels.

Auch in anderer Form mussten Bewohner unter Medikamenten leiden, und auch hier wurden die rechtlichen Bestimmungen nicht eingehalten: Das Medikament Androcur wurde mindestens zehn Bewohnern des Auhofs und drei des Wurzhofs (Postbauer-Heng) gegen den Sexualtrieb verabreicht, nachdem man zuerst versucht hatte, den Trieb mit Neuroleptika zu dämpfen. Man glaubte damals, präventiv sexuelle Verfehlungen zu verhindern, schreibt Wagner in ihrer Untersuchung. Das Handeln zeige aber auch, dass Menschen mit geistiger Behinderung damals als entweder sexuell neutrale Wesen oder als "große" oder "ewige Kinder" angesehen wurden, denen man Partnersuche oder Kinderwünsche grundsätzlich absprach.

Der Schlag mit der Schöpfkelle auf den Kopf, wenn beim Essen gesprochen wurde, Ohrfeigen, Einsperren und andere Strafen sind auch in den Rummelsberger Einrichtungen zumindest bis in die 1980er Jahre an der Tagesordnung gewesen, so Mitautor Schmuhl. Personalmangel, unzureichend qualifiziertes Personal und räumliche Mängel führten dazu, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Gewalt die "totale Institution" aufrechtzuerhalten versuchten. Gewaltexzesse wie in anderen zuvor untersuchten Einrichtungen habe man aber bei den Rummelsbergern nicht gefunden, so Schmuhl. Er warnte aber, die Fortschritte seien fragil. Auch heute stellten Personalmangel oder zu große Gruppen in der Behindertenhilfe Probleme dar.

Für ihre Untersuchungen konnten die Autoren unter Federführung des Historikers Karsten Wilke auch zahlreiche Interviews mit Betroffenen führen. Die Aktenlage war dagegen wenig erfreulich, da "die Rummelsberger sehr ordentlich waren", so ihr Sprecher, Georg Borngässer, und Unterlagen meist nach der gesetzlichen Aufhebefrist vernichtet hätten.

Er habe mit großer Betroffenheit das Buch gelesen, sagte der Vorsitzende der Rummelsberger Diakonie, Rektor Reiner Schübel. Gerade wenn er von den Menschen lese, die der Alltag in den Einrichtungen krank gemacht habe, löse das Scham aus. Die von Gewalt betroffenen Menschen in der Behindertenhilfe der Rummelsberger bat Schübel am Donnerstag bei einer Videokonferenz um Verzeihung. Das nun erschienene Buch "wäre umsonst, wenn wir daraus keine Lehren ziehen", sagte er. Man müsse wach und kritisch bleiben und eine Kultur schaffen, in der Gewalt kein toleriertes Mittel sei und bleibe.

Karsten Wilke, Hans-Walter Schmuhl, Sylvia Wagner, Ulrike Winkler

"Es sollte doch alles besser werden"

Die Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie 1945 bis 1995

 

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