"Menschen haben keine Behinderung. Orte schon", erklärt die Aktion Mensch in ihrer neusten Kampagne #OrteFürAlle. "Deshalb lasst uns gemeinsam Barrieren abbauen, damit aus Orten mit Behinderung #OrteFürAlle werden." Das hört sich erstmal gut an, nach mehr Inklusion und Barrierefreiheit. Die Kampagne wird von mehreren Prominenten mit und ohne Behinderung getragen. Neben TV-Spots gibt es auch interaktive Spiele auf der Webseite, bei denen nicht-behinderte Menschen in die Rolle von behinderten schlüpfen können sollen.

Doch an der sicherlich gutgemeinten Kampagne von Aktion Mensch regt sich Kritik. Die Inklusions-Aktivist*innen Luisa L'AudaceAlina Buschmann und Evilina Enfer erklären in einem Instagram-Video, was sie an #OrteFürAlle stört. 

Die Kritik der Aktivist*innen an #OrteFürAlle

Einleitend erklärt L'Audace in Anspielung auf das Motto der Kampagne: "Orte können nicht behindert sein. Wenn überhaupt, sind sie behindernd." Genau genommen seien es auch nicht die Orte, sondern die Barrieren vor Ort, von denen eine Behinderung ausgehe. 

Wenn sie sage: "Ich bin eine behinderte Frau", gehe es dabei nicht um die Beschreibung der Fähigkeiten ihres Körpers, stellt Buschmann klar:

"Die Erfahrungen, die ich als behinderte Frau gemacht habe, gehören zu meiner Identität und die verschwinden nicht durch nachträglich beseitigte Barrieren."

Und aus genau dieser Identität mache die Kampagne eine Art Adventure-Game, kritisiert Enfer: "Unsere Lebensrealität als funny Fungame zum Nachspielen für den interessierten Nichtbehinderten."

Sie überkomme das ungute Gefühl, dass dieses ganze "Du bist ja nicht behindert, du wirst behindert" zu einem neuen Euphemismus verkomme, so L'Audace: 

"Wir setzen uns seit Jahren dafür ein, dass 'behindert' als neutrale Selbstbezeichnung anerkannt wird. Und nun wird es wieder negativ verknüpft – mit etwas, das beseitigt werden soll."

Wer spricht hier für wen?

Ein weiterer Kritikpunkt der Aktivist*innen ist, dass Aktion Mensch für #OrteFürAlle größtenteils nicht-behinderte Menschen dafür bezahle, um über Behinderung zu sprechen, während behinderte Aktivisti*innen kostenlose Aufklärung leisteten. Und das, wo behinderte Menschen ohnehin schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten.

Die Aktion Mensch sei immer "ganz vorne mit dabei", wenn es darum gehe, über Behinderungen zu sprechen, so L'Audace. Dabei bestehe der Verein aus größtenteils nicht-behinderten Menschen, die mit dem Thema jedes Jahr Millionen Umsätze machten. 

Buschmann fasst es zusammen:

"Behinderte Menschen brauchen keine Charity, wir brauchen Rechte!"

Sich gegen Barrieren einzusetzen, sei ja "schön und gut", aber müsse man dafür behinderten Menschen ihre Selbstbezeichnung absprechen, fragt sie.

L'Audace führt aus, in der Kampagne stellte die Aktion Mensch es so dar, als seien physische Barrieren die einzigen Hindernisse, mit denen behinderte Menschen zu kämpfen hätten. "Dabei könnt ihr so viele Barrieren beseitigen, wie ihr wollt: Uns wird es weiterhin geben." Mit der Kampagne spräche Aktion Mensch ihnen einen entscheidenden Teil ihrer Identität ab und mache sie unsichtbar. 

"Nur ihr gewinnt", beschließen die drei Aktivist*innen ihr Video. 

So reagiert Aktion Mensch auf die Kritik

Die Aktion Mensch reagiert auf die von den Aktivist*innen geäußerte Kritik umgehend – in einem ausführlichen Kommentar unter dem Video. Mit der Kampagne habe man deutlich machen wollen, dass Barrierefreiheit "uns alle angeht". Das Bewusstsein für die unterschiedlichen Barrieren sei bei vielen Menschen aber nach wie vor nicht vorhanden.

"Natürlich bleibt – und da habt ihr vollkommen recht – die individuelle Behinderung und das wollen wir mit der Kampagne keinesfalls weg reden", versichert man. Viele Herausforderungen von Menschen mit Behinderung entstünden jedoch durch eine Infrastruktur, die ihren Anforderungen nicht gerecht wird. "Damit meinen wir im Übrigen nicht nur den physischen Ort."

"Um eine gleichberechtigte Teilhabe aller zu ermöglichen, dürfen Barrieren nicht das Problem einzelner Menschen sein – sondern sie gehen alle an."

Man habe sich für ein "vielleicht auch ein bisschen provokative" Aussage entschieden, um besondere Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken und eine Bewusstseinsveränderung anzustoßen. "Dabei waren selbstverständlich von Anfang an Menschen mit Behinderung in der Entwicklung und Umsetzung dabei – und wir haben auch einige eurer Punkte sehr kontrovers diskutiert." Ansonsten nehme man die Kritik ernst und biete Gespräche darüber an, wie sich das eigentliche Ziel der Kampagne noch besser erreichen ließe. 

"Haben klare Prinzipien": Die Aktivist*innen bleiben konsequent

Luisa L'Audace antwortet auf diese Rechtfertigung, es gebe einen entscheidenden Unterschied zwischen einer falschen Information und einem provokativen Aufhänger. "Mit eurer Reichweite die Behauptung in den Raum zu stellen, es gäbe keine behinderten Menschen, grenzt an Silencing."

"Wir haben klare Prinzipien und haben uns deshalb dagegen entschieden, mit euch zusammenzuarbeiten."

Man biete aber einen öffentlichen Austausch auf Instagram Live an. Dies wiederum lehnt Aktion Mensch in einer neuerlichen öffentlichen Antwort ab. Stattdessen schlägt man ein moderiertes persönliches Gespräch mit einem Mitglied der Geschäftsleitung vor. "Dieses kann aufgezeichnet werden."

Das aber stößt bei den Aktivist*innen auf wenig Gegenliebe. In einer Antwort zeigt sich Luisa L'Audice verwundert, warum ein Instagram Live keine Option darstelle. "Indem ihr uns vorschlagt, eine Produktion sowie eine Moderation zu organisieren, haben wir das Gefühl, dass ihr das lediglich tut, um die volle Kontrolle darüber zu erlangen." Der Vorteil eines Live-Formats sei dagegen, dass nichts geschnitten werden könne. Zudem verweist sie auf die Corona-Pandemie und darauf, dass die meisten Aktivist*innen einer Risikogruppe angehören: "Von einem persönlichen Treffen sehen wir deshalb ab." Zum Angebot eines gemeinsamen Live-Videos stehe man dagegen weiterhin. 

 

 

 

 

 

 

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