Herr Longerich, Sie stellen die These auf, Judenhass sei auch ein identitätsstiftendes Element der Deutschen, die sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts auf der Suche nach einer Einheit als Nation befanden. Wie begründen Sie das?
Peter Longerich: Seit den 1780er-Jahren erleben wir das Phänomen, das vielerorts in der Gesellschaft die Juden zunehmend als säkulare Gemeinschaft wahrgenommen wurden. Das geschieht zur selben Zeit, als sich die Deutschen auch kulturell und dann politisch aufmachten, eine nationale Identität zu finden und zu definieren versuchten, was Deutschsein eigentlich heißt. Diese beiden Prozesse laufen ineinander und haben eigentlich bis zum heutigen Tag die verhängnisvolle Entwicklung zur Folge, dass man sich schwer tut zu sagen, was deutsch ist, aber viele sich zumindest darin einig sind, was man nicht sein will, nämlich so wie die Juden. Antisemitismus wandelte sein Gesicht erneut Ende des 19. Jahrhunderts, als er in einer völkischen Aufbruchs-Bewegung aufging. Die Wurzeln der nationalen Einheit sollten aus dem Volk heraus begründet werden. Das setzte sich dann nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Zeit fort. Nachdem das Kaiserreich zerfallen war, entstand, was die "nationale Frage" anging, ein Vakuum, das diese Bewegung mit ihren völkisch-antisemitischen Ideen immer mehr ausfüllen konnte. Nicht nur Extremisten, sondern auch viele, die sich zur Mitte der Gesellschaft rechneten, fühlten sich angesprochen. Der bis heute in der Gesellschaft verankerte Antisemitismus ist das Ergebnis dieser negativen Identitätsbildung.
Sie stellen auch zahlreiche Autoren vor, die bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg ihre Rassentheorien auf intellektuelle Weise vorstellten. Haben die Deutschen solche Schriften eigentlich in der Mehrheit gelesen?
Peter Longerich: Denken Sie an Wilhelm Stapels "Antisemitismus und Antigermanismus" oder Hans Blühers "Secessio Judaica". Das sind Texte, die heute keiner mehr liest und auch nicht mehr lesen kann, weil der Inhalt zu abstrus erscheint. Damals aber waren solche Werke weit verbreitet. Houston Stewart Chamberlain, der zahlreiche antisemitische Schriften vorgelegt hatte und Richard Wagners Schwiegersohn war, stand etwa im Bücherregal vieler gut bürgerlicher Haushalte. Interessant ist, dass die heutige Neue Rechte bemüht ist, solche Texte wieder aus dem Dunkel hervorzuholen.
Zwielichtige Rolle der Kirchen
Breiten Raum in Ihrer Betrachtung nimmt auch die Rolle der beiden christlichen Kirchen ein, die über all die Jahre den jeweiligen Regierungen nach dem Mund geredet zu haben scheinen. Geht eine solche Interpretation zu weit?
Peter Longerich: Ich würde sogar noch weiter gehen. Die christliche Kirche insgesamt war nicht nur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Hauptträger der religiösen Judenfeindschaft , sondern auch in den vergangenen beiden Jahrhunderten brachten beide Konfessionen in erheblichem Umfang eigenständige judenfeindliche Bewegungen hervor. Die Katholiken haben etwa zeitweise zwischen einem falschen Antisemitismus und einer richtigen 'Abwehr' angeblich jüdischer Übermacht unterschieden. Alte Vorurteile gegen Juden wurden jetzt modern gewendet: Hatte man früher am falsch verstanden Auserwähltsheitsglauben der Juden, ihr Messianismus oder ihre 'Verstocktheit' gegenüber der christlichen Lehre Anstoß genommen, so zog man jetzt gegen die 'jüdische Weltverschwörung' zu Felde oder unterstellte ihnen ein arrogantes Überlegenheitsgefühl im täglichen Umgang.
Gibt’s konfessionelle Unterschiede im jeweiligen Antisemitismus?
Peter Longerich: Die protestantischen Landeskirchen waren per se schon immer eng mit dem Staat verbunden und übernahmen im 19. Jahrhundert beispielsweise generell gerne die auf Abwehr der jüdischen Emanzipation gerichteten Ansichten der konservativen Eliten, die den Staat regierten. Die Katholiken dagegen begannen ab den 1830er-Jahren sich als ein eigenständiges, durchaus politisch aufgestelltes Milieu auch gegen die staatliche Obrigkeit zu definieren. In beiden Konfessionen stand das Judentum schlechthin für die negativ wahrgenommene Moderne und die allgemeine Entchristlichung. Am Ende der Weimarer Republik hat die katholische Kirchenführung eine ablehnende Haltung gegenüber Hitler bezogen, 1933 suchte sie dann einen modus vivendi mit dem Regime. Das Bild in der evangelischen Kirche ist da weitaus gemischter. Das gab es echte Nationalsozialisten, deutschnationale Protestanten, aber auch energische Gegner dieser neuen politischen Strömung. Nach 1945 haben beide Kirchenleitungen natürlich hart daran gearbeitet, jegliche antisemitische Haltungen abzubauen, und das ist ihnen zumindest im offiziellen Erscheinungsbild und im theologischen Bereich sicher auch gelungen. Man weiß aber trotz aller dieser Anstrengungen nicht, ob es in den Kirchen trotzdem noch Nischen gibt, in denen negative Judenbilder weiter gereicht werden. Und auch nicht, inwieweit diese Ressentiments noch immer im privaten Bereich, an Stammtischen oder etwa im Vereinsleben gepflegt werden. Die Tabuisierung antisemitischer Äußerungen in der Öffentlichkeit hat auch zur Folge, dass diese sozusagen unterirdisch weiter gereicht werden.
Warum eigentlich Judenhass?
Antisemitismus zu erklären ist eine schier unlösbare Aufgabe. Und es bleibt die Frage, warum eigentlich immer die Juden gehasst werden. Wissen Sie's?
Peter Longerich: Ich habe nicht versucht, eine allgemein gültige Theorie des Antisemitismus aufzustellen, weil das meines Erachtens ein sinnloses Unterfangen wären. Die Frage nach den jeweiligen Ursachen müssen wir aber in jedem Falle nicht an die Juden, sondern an diejenigen richten, die sich judenfeindlich äußern oder so handeln. Es gibt ja auch Vorurteile gegenüber Juden bei Menschen, die noch nie im Leben mit einem zu tun hatten, und dieser Judenhass funktioniert besonders gut. Die Ursachen liegen also bei der Mehrheitsgesellschaft, die einen negativen Bezugspunkt offensichtlich braucht, um ihr Wir-Gefühl zu stärken. Die Frage 'warum immer die Juden?' lässt sich nur beantworten, wenn man sich die jahrhundertealte Tradition vor Augen hält, in dem ein sublimes Arsenal an judenfeindlichen Stereotypen entwickelt wurde. Für den modernen Antisemitismus gilt, dass die Juden nicht einfach als Fremde wahrgenommen wurden, sondern als ethnisch-kulturelle Gruppe, die wegen ihrer Anpassungsbereitschaft an die Mehrheitsgesellschaft und ihres gleichzeitigen übernationalen Zusammenhalts als so gefährlich erschien.
Sie sprechen auch aktuelle Erfahrungen mit Schülern und. Was überrascht Sie hier?
Peter Longerich: Ich hatte zum Beispiel mal einen Studenten, der einfach nicht nachvollziehen konnte, dass Juden im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft haben, weil sie Deutsche waren. Deutsch und jüdisch ging für ihn partout nicht zusammen. Wo immer er dieses Vorurteil her hatte, sein Gymnasium konnte ihn offenbar nicht eines Besseren belehren. Das scheint aber kein Einzelfall zu sein. Es gibt erst jetzt die ersten Studien darüber, wie das Sprechen über Antisemitismus in den Schulen bei den Schülern ankommt. Dabei stellt sich heraus, das Lehrerinnen und Lehrer häufig überfordert sind und unter Umständen genau das Gegenteil vom dem erreichen, was sie beabsichtigen. Man stößt auf diffuse Judenbilder, hat dann aber im Unterricht nicht die Zeit und die Möglichkeiten, diese gründlich aufzuarbeiten und echte Aufklärung zu leisten. Vermutlich fragen sich Schüler auch, ob an den Vorurteilen gegenüber Juden nicht doch irgendetwas dran ist, wenn Juden im Unterricht vorwiegend im Zusammenhang mit Konflikten behandelt werden. Das will man aber dann vielleicht in der Klasse nicht so deutlich zum Ausdruck bringen, um nicht als judenfeindlich hingestellt zu werden. Bei Schülern kann dann leicht der Eindruck entstehen, dass man es bei den Juden mit einer Minderheit zu tun hat, die, um es salopp zu sagen, einfach anders ist und immer wieder Ärger verursacht.
Ran an die Ursachen des Antisemitismus
Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, um dem entgegen zu wirken?
Peter Longerich: Man müsste viel mehr die Ursachen des Antisemitismus benennen. Dazu gehört vor allem, dass man nicht im Verhältnis 'Wir' und 'Die' denken darf. Leider kommt es immer wieder vor, dass Politiker durchaus im wohlwollenden Tonfall sich Sorgen darum machen, wie 'wir Deutsche' mit 'den Juden' umgehen. Damit ist die Ausgrenzung aber bereits verbal vollzogen. Dahinter steckt ja die grundsätzliche Frage nach der eigenen Identität, ob man nämlich Deutschsein nach gemeinsamer Kultur, historischer Erfahrung oder Abstammung definieren will, was immer auf Ausgrenzungen hinausläuft oder als Summe der Menschen, die in Deutschland leben und sich zu dieser Nation rechnen.
Gerade in den vergangenen Wochen war mit Blick auf israelfeindliche Demonstrationen wieder verstärkt vom 'importierten Antisemitismus' die Rede. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Peter Longerich: Da geht es zunächst vor allem um palästinensische und arabische Jugendliche, es wäre falsch, pauschal von Muslimen zu sprechen. Diese Demonstranten übertragen ihre negative Einstellung gegenüber den Staat Israel zum Teil einfach auf alle Juden. Das ist das Problem. Wir haben es mit einem realen, nämlich dem Nahost-Konflikt zu tun, zu dem man hierzulande unterschiedliche Ansichten vertreten kann. Man kann bei diesen Demos an und für sich anhand der Plakate und Parolen unterscheiden, ob der Protest antiisraelisch oder antisemitisch ist. Wenn aber gegen Israel gerade vor einer Synagoge demonstriert wird, dann ist bereits eine Grenze überschritten. Die Differenzierung macht aber überhaupt keinen Sinn mehr, wenn jemand die Vernichtung Israels fordert. Generell muss man aber sehen, dass Antisemitismus von dieser Seite in den Medien sehr hohe Aufmerksamkeit erfährt, ohne dass das Ausmaß dieses Phänomens in seiner Größenordnung auch nur einigermaßen erfasst wäre. Wir wissen einfach zu wenig über den Antisemitismus von Menschen mit Migrationshintergrund, das gilt zum Beispiel aber auch für Einwanderer aus Osteuropa und wir vergessen leicht das Hauptproblem, nämlich unsere hausgemachte Judenfeindschaft. Für die eindeutig antisemitische Aussage 'Wenn ich mir die Politik Israels ansehe, kann ich verstehen, dass man etwas gegen Juden hat' erhalten sie in der deutschen Bevölkerung Zustimmungsraten, die über 40 Prozent liegen. Das wird in den Medien aber weit weniger skandalisiert, als diese Demonstrationen mit jeweils einigen Hundert Teilnehmern.
Wir haben doch an zahlreichen Stellen im Lande Aufklärungsprogramme, Antisemitismusbeauftragte und unternehmen viele Anstrengungen im Kampf gegen Judenhass. Reicht das alles nicht oder setzt es an den falschen Stellen an?
Peter Longerich: Viele dieser Bemühungen sind angesichts des Ausmaß des Problems einfach nicht adäquat. Diese tief in der Gesellschaft verwurzelten Vorurteile gegenüber Juden kann man nicht mit einigen gutmeinten Programmen aus den Menschen heraus bringen. Dafür bedarf es größerer Anstrengungen. Man müsste sich systematisch sämtliche Bereiche des Lebens ansehen, angefangen bei der Schule und den Universitäten über die großen Sozialisationsinstanzen wie Kirchen oder Vereine, inwieweit da vielleicht auch unbewusst jeweils jüdische Stereotype weiter gepflegt werden. Es sind intellektuelle Anstrengungen im Ausmaß einer Pandemiebekämpfung notwendig. In der Politik ist man immer alarmiert, wenn antisemitische Vorfälle geschehen, erklärt die Bekämpfung des Antisemitismus zur Staatsräson, hat bisher aber keine ausreichenden nachhaltigen Maßnahmen geschaffen. Das ist angesichts der historischen Dimension der Judenfeindschaft in Deutschland nicht hinnehmbar. Dieser Aspekt soll in dem Buch herausgearbeitet werden und mir bleibt nur zu hoffen, dass es dazu beiträgt, dem Leser ein Gefühl dafür zu vermitteln, welch gewaltige Aufgabe der Kampf gegen Antisemitismus ist.
Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist - die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen, wie es hierzulande in Schule und Hochschule gelehrt wird. Denn der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Ein brisantes Buch, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.
Verlag: Siedler Verlag
Seitenzahl: 631
ISBN: 978-3-532-62451-7
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