Das Kinderzimmer wirkt unbewohnt, die Spielzeuge scheinen kaum berührt. Ein Himmelbett krönt den Raum, der weiße Vorhang hängt auf die Matratze des Bettes. "Meine Tochter hat noch nie bei mir übernachtet", sagt Thomas Naumann (Name geändert). Sein Blick schweift durch das Zimmer der Vierjährigen und bleibt an einem selbstgemalten Bild von ihr hängen.
"Seit wenigen Monaten gibt mir meine Tochter nach unseren Treffen zumindest einen Abschiedskuss und sagt 'Tschüs, Papa'. Früher war das nicht der Fall. Sobald sie ihre Mutter gesehen hat, war sie sofort abweisend", sagt Naumann. Er befürchtet, seine Tochter befinde sich in einem Loyalitätskonflikt.
Symptome einer Eltern-Kind-Entfremdung
Der Loyalitätskonflikt und der vermeintliche Wunsch des Kindes, den getrenntlebenden Elternteil zu meiden, sind Symptome der Eltern-Kind-Entfremdung. Das Syndrom, um dessen Existenz bis heute kontrovers gestritten wird, beschreibt die Manipulation des Kindes durch den erziehenden Elternteil, was die Entfremdung zum anderen Elternteil, zumeist des Vaters, zur Folge hat. Naumann sieht sich dieser Gefahr ausgesetzt.
Jedes Jahr verlieren Zehntausende Kinder den Kontakt zu Mutter oder Vater
Als das Mädchen ein Jahr alt war, trennten sich Naumann und seine Ehefrau. Der 39-Jährige erhält vier Stunden begleiteten Umgang mit seiner Tochter. "Die Anfangszeit nach der Trennung war besonders schwierig", erinnert sich Naumann. Doch er wollte den Kontakt zu seinem Kind entgegen vieler verletzender Aussagen und Anklagen der Exfrau aufrechterhalten. Das Kind wurde seiner Meinung nach als Spielball missbraucht.
Eine Umfrage des Vereins "MamaPapaAuch", der sich für gleichberechtigte Erziehung einsetzt, ergab: Jährlich verlieren bis zu 40.000 Minderjährige nach Trennung der Eltern den Kontakt zu Mutter oder Vater. In rund 95 Prozent der Fälle sind die Betroffenen unter zwölf Jahre alt - ein prägendes Alter. Nach einer Scheidung oder Trennung der Eltern wachsen laut Statistischen Bundesamts 90 Prozent der Kinder bei der Mutter auf. Welche Rolle der Vater dann im Leben seines Kindes spielt, ist eine Frage, die oft vor Gericht endet.
Die Folgen für die Kinder sind fatal
Die Diplompsychologin Ursula Kodjoe beschäftigt sich seit 27 Jahren mit der Thematik der Eltern-Kind-Entfremdung. Die Folgen für Kinder, bei denen der Kontakt zu einem Elternteil abbricht, seien fatal, sagt sie. Nicht die Trennung selbst sei es, unter der die Kinder leiden, sondern es seien der damit verbundene Streit und das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.
Beim Väter-Stammtisch des Vereins Väteraufbruch für Kinder in einem kleinen Café in Würzburg unterhalten sich drei Männer, alle um die 40, wild gestikulierend. Richard Lehner, Vater einer dreijährigen Tochter, hat vor wenigen Tagen einen Brief vom Anwalt bekommen. Der Vorwurf: Er sei seiner Exfreundin während der gesamten Beziehung gegenüber gewalttätig gewesen.
"Es werden einfach Anschuldigungen erfunden. Und ich befinde mich nun in der Position, alles widerlegen zu müssen. Mir wird der Umgang mit meiner Tochter unheimlich schwer gemacht"
sagt Lehner. Alle zwei bis drei Monate findet der Austausch zwischen Betroffenen statt.
Die Sachverständige und Diplom-Psychologin Silvia Danowski-Reetz arbeitet mit entfremdeten Kindern aller Altersklassen zusammen. Ziel ist der Bindungserhalt zwischen Eltern und Kind, wie sie erklärt: "Nach Möglichkeit sollte ein Konflikt zwischen Eltern gar nicht erst auf das familiengerichtliche Niveau gesteigert werden. Ist dies nicht mehr zu verhindern, sollten sich die Familien sicher sein können, dass sich Jugendamtsmitarbeiter und Familienrichter einer professionellen Weiterbildung im Bereich des Bindungserhalts unterzogen haben." Entsprechende psychologische Schulungen seien leider immer noch nicht verpflichtend.
Weitreichende Spätfolgen & hohe Kosten für das Gesundheitswesen
Fehlende Prävention und Aufklärungsarbeit hätten weitreichende Spätfolgen. "Wenn die Bindung zwischen Eltern und Kind mutwillig zerstört wird, hat das langfristig enorm hohe Kosten für unser Gesundheits- und Sozialwesen zur Folge", sagt Danowski-Reetz. "Viele Erwachsene, die als Kind die Bindung zu einem Elternteil verloren haben, sind ein Leben lang auf psychiatrische Hilfe angewiesen und nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen." Der Beginn des öffentlichen Diskurses habe bereits stattgefunden, doch ein wirklicher Wandel im Familienrecht scheine noch in weiter Ferne.