Ich bin zerstört. Ich zittere seit Tagen am ganzen Körper. Mir ist übel und das Atmen geht nur schwer. Alles in mir sträubt sich davor zu glauben, dass Krieg ist. Ein Okkupationskrieg, wie ihn die Ukrainer nennen. Eine Operation zur Befreiung und Entnazifizierung des Bruderlands, sagt Putin.

Meine Schule war nur ein paar Kilometer von der russischen Grenze entfernt

Mein zweijähriger Sohn läuft vergnügt im Zoo umher, es ist schönes, wenn auch kaltes Wetter, hier in Deutschland, wo ich seit 1995 lebe. Meine gesamte Familie mütterlicherseits lebt in Charkiw, in einer ukrainischen wohlhabenden und prosperierenden Millionenstadt ganz im Osten des Landes. Meine Schule war nur ein paar Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Mein Sohn, der noch nichts vom Krieg mitbekommt, zeigt auf eine Schildkröte und sagt "Auf Russisch heißt es Tscherepaha". Ja, sage ich, das ist richtig. Mir wird übel. Die russische Sprache, meine Muttersprache, die so viele Ukrainer als Muttersprache sprechen, kann ich plötzlich nicht mehr benutzen, sie schmeckt nach Galle.
Am 24. Februar, als die russischen Kolonnen in Richtung Charkiw vorrücken, tippe ich mit zitternden Händen eine Nachricht an meine Freundin in Moskau, die ebenfalls Julia heißt:

"Bitte hilf mir zu verstehen, finden Russen wirklich, dass die Ukraine für sie eine Gefahr darstellt? Hilf mir, es zu verstehen. Wir sind alle doch so eng verbunden."

In ihrer Antwort klingt sie verzweifelt, der Krieg ist über sie und ihre Freunde und Kollegen genauso plötzlich hereingebrochen wie über uns in Deutschland: "Ich verstehe überhaupt nichts, ich kann das alles nicht glauben, ich bin fassungslos, ich weiß nicht, wie wir alle weiterleben werden. Ich schäme mich so sehr." Ihre Worte treffen mich ins Mark.

Die folgenden Tage sind erfüllt von Fragen, Theoriebildungen, dem Lesen der unzähligen Kommentare. Wie kann das sein, dass ich die Situation so völlig falsch eingeschätzt habe? Ich lese entsetzt, dass viele Russen das Märchen von der Entnazifizierung glauben. Wie kann das sein, wie konnte ich diese Entwicklung verpassen? Wieso hat niemand gesehen, dass Putin einen Informationskrieg gegen die eigenen Leute führt, bevor er mit Panzern in den Krieg gegen die Ukraine zieht?

Antwortsuche in drei Sprachen

Hat der Westen doch etwas falsch gemacht? Welche Versprechen wurden Putin gegeben, gibt es vielleicht doch einen rationalen Grund für dieses monströse Vorgehen? Oder ist es das Ergebnis des jahrelangen Abdriftens von Putin in die rechtsnationale Ideologie, die von der verloren gegangenen Pracht des russischen Imperiums träumt, vom Endkampf gegen den bösen Westen, und die Realität völlig ignoriert?

Ich suche die Antworten in drei Sprachen. Die Fake News der russischen Medien nehmen mir den Atem. Auf ukrainischen Kanälen von Telegram sehe ich mir Videos an, die das Ausmaß der Zerstörung der Stadt und das Elend der Menschen dokumentieren. Ein Hass auf die selbsternannten "Befreier", ein Hass auf die "Raschisten", ein Hass auf Putin und sein Russland lodert auf. Er ist für diese russischsprachige Region völlig neu, er ist in diesen Tagen gesät worden, vor seinen Früchten kann man sich nur fürchten.

Es gibt niemanden, der die Zerstörung der Krankenhäuser und Schulen für eine friedensstiftende Aktion hält

In Charkiw gab es zweifellos prorussische Bürgerinnen, das Zusammenleben funktionierte dennoch reibungslos. Man war unterschiedlicher Meinung in manchen Punkten, was die Intensität der Beziehungen zu Russland angeht. Nun sind auch diese Menschen entsetzt und entschieden antirussisch. Es gibt niemanden, der die Zerstörung der Krankenhäuser und Schulen für eine friedensstiftende Aktion hält.

Ich träume von meinem Halbbruder Nikita. Mein Vater ist spät zum zweiten Mal Vater geworden. Er hat mit 69 Jahren einen sechsjährigen Sohn und eine junge Frau. Sie sitzen in ihrer kleinen Wohnung, versuchen so wenig wie möglich von ihren Vorräten zu essen und weigern sich zu fliehen. Mein Vater ist voller Hass auf die Okkupanten, die vor seinen Augen seine Stadt zerstören, seine Stadt, in der er jeden Winkel kennt, deren Modernisierung und Aufbau er in den 2000ern so genossen hat. Ich schließe meine Augen und sehe Nikitas Locken und das Grübchen auf seinem Kinn. Das Haus könnte bombardiert werden, sie könnten tagelang verletzt liegen, ohne dass je die Hilfe kommt. Sie könnten sterben.

Sie sitzen in ihrer kleinen Wohnung und weigern sich zu fliehen

Meine Cousine Elena versteckt sich mit ihren Eltern, ihrer 20-jährigen Tochter und Großmutter seit Tagen im Keller ihres Hauses bei Charkiw. Ihre Tochter lernt Englisch in einer internationalen Online-Lerngruppe. Dort haben sich auch russische Mitlernende geäußert. Sie sagen offen, dass Ukrainer lügen. Sie sagen, dass meine Nichte, die seit Tagen im Keller sitzt, lügt, wenn sie erzählt, dass ihr Dorf mit Raketen beschossen wird. Das Dorf, in dem es überhaupt nichts Kriegswichtiges gibt, keine wichtige Infrastruktur, keine Nazis an der Macht, nur Menschen, die Landwirtschaft treiben und ihr Leben in Ruhe leben möchten.

Fieberhaft versuche ich die Puzzleteile zusammenzubringen, die nicht zusammenpassen. Putin redet ständig von Entnazifizierung. Was meint er damit? Ich schneide Knoblauch und denke an meinen Großvater, der die Knoblauchzehen ganz gegessen hat, wobei ich ihm mit einer Mischung aus Ekel und Faszination nachzueifern versuchte. Dieser Großvater war ein glühender Kommunist, der im Großen Vaterländischen Krieg schwer verwundet wurde, in Gefangenschaft kam und gefoltert wurde. Nicht von den deutschen Nazis, sondern von den ukrainischen Kollaborateuren im Westen der Ukraine. "Banderowzi", so nannte er sie. Das war eine nationalistische Bewegung um Stepan Bandera, die in der heutigen Ukraine schon lange keine Bedeutung mehr hat.

Es war möglich, sich mit der scheinbar "unfehlbaren" Vergangenheit des Siegers über den Faschismus kritisch auseinanderzusetzen

Mein Großvater hatte trotz seiner Erfahrungen aus dieser Zeit niemals einen Zweifel daran, dass die Ukraine als souveränes Land mit einer eigenen Kultur und eigenen Interessen existieren darf. Und dass die Ukraine einen eigenen Weg gehen darf, trotz der langen gemeinsamen Geschichte mit Russland.

Irgendwann in den 1990ern hat er diesen Wendepunkt vollzogen. Die Berichte von Stalins Grausamkeiten, vom Hungermord in den 1930er-Jahren an Millionen Ukrainern haben sein Erwachen eingeleitet. Er war damit nicht allein, viele Altkommunisten haben es ähnlich erlebt. Das war möglich in der Ukraine. Es war möglich, sich mit der scheinbar "unfehlbaren" Vergangenheit des Siegers über den Faschismus kritisch auseinanderzusetzen. Das hat wehgetan, aber es waren einige, die diese Wende mitvollzogen. Vielleicht ist das der fruchtbare Boden gewesen, in dem die junge demokratische Bewegung Wurzeln fasste. Nicht der ukrainische Faschismus hat die Proteste auf dem Maidan 2014 hervorgerufen, wie Putin es propagiert, sondern die Fähigkeit vieler Ukrainer, Alternativen für das Totalitäre des modernen Russlands zu sehen und sie zu wollen.

Ich liege in der Nacht wach, vor meinem inneren Auge ziehen Gesichter meiner Freundinnen, meiner Lehrer, meiner ersten Liebe vorbei. Mein Geist weigert sich zu schlafen, irgendwann muss ich es, ich kann eh nichts tun. Das ist eine schreckliche Erkenntnis. Ich lebe in Deutschland und kann nichts tun.

So ist es im Krieg – die Ungewissheit wird zum alles dominierenden Gefühl

Der sechste Tag dieses Kriegs ist der schwerste für meine Cousine. Sie ist nicht mehr so wütend wie am Anfang, sie ist jetzt zutiefst erschrocken. Darüber, dass es der Anfang einer quälend langen Zeit der Ungewissheit sein könnte. Einer Zeit in Lebensangst, mit Hunger und Leiden. Wie ist das möglich im 21. Jahrhundert?, fragt sie in einer Nachricht. Putin stammt nicht aus dem 21. Jh., denke ich. Er lehnt alle Werte ab, die modern sind, er ist das Kind der Vergangenheit. Ein Kind des autoritären Machotums, das jede Art von echtem Dialog, von Wertschätzung und Diversität als Schwäche ansieht.

Die Schwester meiner Mutter, meine Tante, hat sich nach zwei Tagen der Einsamkeit ohne Strom und Mobilfunk entschlossen, die Flucht zu wagen. Sie spart Handyakku und schreibt nur kurze, an Infos spärliche Nachrichten. Im vollgestopften Zug von Charkiw nach Lwiw konnte sich diese schmale Person einen Stehplatz auf dem Gang ergattern. Erst stand sie zehn Stunden am Bahnhof und dann noch mehr als zehn Stunden im Zug. Der nächste Zug von Lwiw ins polnischen Pszemysl brauchte für 100 Kilometer die ganze Nacht. Es war bitterlich kalt, niemand wusste den Grund für das Nicht-Weiterfahren. So ist es im Krieg. Die Ungewissheit wird zum alles dominierenden Gefühl.

Das war’s dann mit dem Brudervolk

Ich lese wieder die Nachrichten. Der ukrainische Telegram-Kanal, dem ich folge, meldet heute, dass die UNO 331 getötete Zivilisten und 675 Verletzte dokumentiert hat. Und dass die realen Verluste viel größer sein können. Hinter diesen Zahlen steht der Kommentar des Administrators: "Wir werden es niemals verzeihen. Einfach niemals." Das war’s dann mit dem Brudervolk, schätze ich.

Der Beschuss aus der Luft wird schlimmer, Raketen treffen auf Wohnhäuser, Jugendherbergen, Krankenhäuser, Lebensmittelläden. Zivilisten werden verletzt und getötet. In meinem Geist verschwimmen Skelette von Charkiw, Grosny und Aleppo in eins. Ich sehe Bilder von Frauen mit Kindern, Alten, die tagelang am Bahnhof stehen und in den überfüllten Zügen wegfahren. Und ich weiß, warum ich nicht mehr schlafe, ich habe Angst, dass ich in einem Albtraum meinen Bruder sehe. Einen Sechsjährigen mit einem Lockenkopf und einem Grübchen auf dem Kinn mitten in den Ruinen, als das letzte und vielleicht tote Kind von Charkiw.

PS: Ich konnte am vergangenen Samstag meine Tante in Berlin abholen. Was für ein Glück in dieser unglücklichen Zeit.