Rund 1.200 Menschen wurden brutal ermordet, knapp 250 nach Gaza verschleppt – und mit ihnen erstarrte das Leben ihrer Angehörigen, eines ganzen Volkes, in einem Zustand zwischen Hoffen und Verzweifeln. Wir lesen diese Zahlen täglich, hören sie, ordnen sie ein. Vor allem aber: Wir gewichten sie. Gegen das Leid in Gaza. Und andersherum.

Was die israelische Regierung und ihre Verbündeten in Gaza seit zwei Jahren anrichten, ist ein zweites Trauma, nicht weniger grausam, ohne jede Rechtfertigung. Selbstverteidigung: ja. Genozid: nein. Über 66.000 Tote, darunter Tausende Kinder. Zerstörte Krankenhäuser, Hunger als Waffe, Menschen, die unter Trümmern sterben.

Wenn Empathie zur Waagschale wird

Das Leid spitzt sich in Gaza noch weiter zu, die humanitäre Lage ist katastrophal und nicht haltbar. Und genau hier entsteht das Verhängnis: Um dieses Ausmaß an Gräuel und Not überhaupt noch politisch einordnen zu können, verschließt sich eine Seite im Herzen. Die Konsequenz ist die Normalisierung von Tod und eine Taubheit, die alle trifft – die empathische Anteilnahme für Menschen in Israel und in Gaza gleichermaßen.

Verloren geht dabei die Differenzierung zwischen politischen Akteuren und ihren Opfern, zwischen der israelischen Regierung, der Hamas und der Bevölkerung, die unter beiden leidet.

Zwischen Hoffnung und Ungewissheit: Die Geiseln im Gaza-Konflikt

Am 7. Oktober schaue ich nach Israel, ohne meinen Blick von Gaza zu wenden. Wichtiger noch: ohne mein tiefes Mitgefühl zu spüren oder mein politisches Engagement für ein Ende des Krieges aufzugeben. Für eine Lösung in einem Land, das kein Staat ist, sondern ein Maulwurfshügel voller Sprengfallen, in dem Menschen leben müssen – ohne Schutz, ohne Zukunft, ohne dass die Welt wüsste, wie man ihn zurück in bewohnbare Erde verwandelt.

In diesem Niemandsland aus Gewalt und Zerstörung sind auch sie verschwunden: die Geiseln. Welche noch leben, ist ungewiss. Und damit auch, ob "Geiseln" überhaupt noch das richtige Wort ist.

Ob sie leiden, ob sie noch hoffen können, ob sie wissen, dass man um sie kämpft, oder ob sie bereits tot sind – all das entzieht sich unserem Wissen.

Staatsräson für Menschen, nicht für Regierungen

Die Staatsräson – jenes politische Handlungsprinzip, mit dem die Bundesregierung ihre besondere Verantwortung gegenüber Israel begründet – hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) vergangenen Sonntag bei Caren Miosga zu Recht relativiert: "Staatsräson hat man in der Regel für das eigene Land und nicht für andere."

Doch wenn wir sie schon auf Israel beziehen, dann muss sie den Menschen gelten, nicht einer Regierung. Nicht Netanjahu und seiner Politik, die weder die eigenen Geiseln befreit noch die eigene Bevölkerung schützt, sondern Zehntausende in Gaza tötet.

Verantwortung gegenüber Israel, Versöhnung nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs – das kann nicht bedeuten, eine Politik zu schützen, die neues Leid produziert. Wenn deutsche Waffenlieferungen in Gaza zu Kriegsverbrechen beitragen könnten, widerspricht das der Menschenwürde, dem Humanitätsgebot, dem Völkerrecht. Und öffentliche Kritik daran muss unter Artikel 5 und 8 des Grundgesetzes geschützt bleiben.

Ein Kriegsstopp fordert kein Lager, keine Partei. Er fordert Menschlichkeit.