Wir alle denken in Schubladen, weil es so für unser Gehirn einfacher ist, Personen, Gegenstände oder Ereignisse einzuordnen. Wir betreiben Identitätspolitik. Sie hilft uns, die Welt besser zu verstehen und uns in ihr zu orientieren. Aber was genau ist Identität und wie funktioniert Identitätspolitik?

Jede Person hat eine eigene Identität. Doch was ist damit gemeint? Spielen meine Nationalität, Hautfarbe, Religion, Sexualität oder soziale Herkunft eine Rolle? Und wenn ja, wie groß ist sie? Entscheide ich selbst darüber, oder wird sie mir von außen zugeschrieben?

Für Jörg Scheller ist Identität erstmal ein "Bezugspunkt für Meinungsbildung, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und vielen anderen Bereichen". Aber es geht dabei nicht nur um das eigene Leben, das man führt, sondern um die Gruppen, die durch solche Identitäten entstehen. Identitäten können auch dann problematisch sein, wenn sie von außen einer Gruppe zugeschrieben werden. Die Identität an und für sich ist laut Scheller nicht das eigentliche Problem, sondern wenn die einzelne Person dahinter verschwindet.

Scheller beobachtet sich selbst dabei, wie er weniger eine Person wahrnimmt, sondern immer mehr Merkmale der dahinterstehenden Identität.

"Meine Wahrnehmung hatte sich in einen Scanner verwandelt, der minutiös Merkmale erfasste und mein Hirn wie auf einer Quittung präsentierte."

In Identität im Zwielicht bezieht Scheller viele verschiedene Sichtweisen mit ein und man merkt, wie weit dieses Themenfeld reicht, aber auch wie sicher er sich darin bewegt. Er führt zahlreiche Quellen an und gibt so einen Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Lage. Beim Lesen fällt es immer wieder schwer, dabei den Überblick zu behalten. Aber jedes Mal, wenn ich mich zwischen den Zitaten verloren habe, kommt Scheller mit einem Alltagsvergleich um die Ecke, der die Theorie in die Praxis überführt. Beispielsweise in der Diskussion, die die Black Lives Matter Bewegung angestoßen hat. Es gehe darum, so Scheller, für spezifische Probleme spezifische Lösungen zu finden. Er vergleicht das mit einem Automechaniker.

"Jeder Automechaniker würde bei einer Reparatur nach spezifischen Lösungen suchen, anstatt einen Opel Corsa wie einen Ford Mustang zu behandeln. Gleichwohl wäre es für ihn klar, dass es sich in beiden Fällen um Autos handelt und es in beiden Fällen erstrebenswert ist, dass die Motoren reibungslos laufen."

Durch diese Beispiele wird der Essay verständlicher, auch wenn man sagen muss: Wer sich mit wissenschaftlichen Texten schwer tut, wird sich wahrscheinlich nicht für Identität im Zwielicht begeistern können. Allen anderen gibt er einen guten Einblick in die Identitätspolitik und steckt deren Grenzen und Potentiale ab, ohne die Erdung zu dem zu verlieren, um das es geht: Menschen, ihr Verhältnis zur Gesellschaft und eine Debatte, die aktueller nicht sein könnte.

Identität im Zwielicht

Jörg Scheller

In der Medienöffentlichkeit ist Identitätspolitik zum Kampfbegriff geworden. Als Verbalkeule dient er nicht zum Verständnis von Minderheiten, sondern schürt Emotionen. Dieses Buch möchte zur Versachlichung der Identitätsdebatten beitragen. Es benennt die Potenziale für einen Pluralismus der Identitäten ohne Diffamierungen und zeigt zugleich ihre Grenzen auf.

So plädiert Scheller für eine Politik der Potenzialität. Der Liberalismus muss neu überdacht werden, um die Möglichkeit des Individuums zu gewährleisten, sich immer wieder neu zu entwerfen.

Denn wenn über dem Geschäft des Identifizierens harter Realitäten vergessen wird, dass Menschen auch eigensinnige, schöpferische Wesen sind, dann gilt: keine Identifikation ohne Imagination.

Identität im Zwielicht war für Tractatus – Preis für philosophische Essayistik nominiert.

Verlag: claudius verlag

Seitenzahl: 208 Seiten

ISBN: 978-3-532-62860-7

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