Herr Kaess, werden unsere Jugendlichen kränker, ist ihre Psyche beeinträchtigter als früher?

Michael Kaess: Dafür gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Klar ist aber, dass die Inanspruchnahme psychologischer und psychiatrischer Leistungen sehr stark zugenommen hat, dass das Patientenaufkommen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich angestiegen ist. Das hat mehrere Ursachen. Zum einen ist die Hürde, zum Psychotherapeuten zu gehen, niedriger geworden. Das hat in Teilen aber auch damit zu tun, dass Familien- und andere Systeme, in denen Jugendliche sich bewegen, heutzutage instabiler sind. Es kommt dadurch schneller zu Eskalationen, das System kann den Jugendlichen mit seinen Problemen nicht mehr tragen.

Wie kann den Jugendlichen geholfen werden?

Kaess: Im Hinblick auf die Prävention muss eine Gesellschaft wie in Deutschland weiterhin an der Minimierung von Risikofaktoren und der Förderung von Resilienzfaktoren arbeiten. Man muss schauen, dass Stressoren für Jugendliche nicht überhandnehmen. Das bedeutet, die Belastung in Familien durch schwierige Familienkonstellationen oder Stressoren im Schulalltag müssen minimiert werden.

Entgegen der allgemeinen Annahme gilt: Schul- und Leistungsstress ist nicht der Hauptrisikofaktor für die Ausbildung psychischer Erkrankungen und Suizidalität.

Ein wesentlicher Risikofaktor sind zwischenmenschliche Probleme im familiären oder schulischen Rahmen im Sinne von Mobbing oder anderen schwerwiegenden Konflikten in der Peer-Gruppe, also unter Gleichaltrigen.

Auf der Ebene der Behandlung gilt: Die Jugendlichen kommen häufig noch viel zu spät, und viele Jugendliche, die Hilfe bräuchten, kommen immer noch gar nicht in die Therapie. Wir wissen, dass der Großteil von suizidalen Jugendlichen überhaupt keine professionelle Hilfe in Anspruch nimmt. Da sind wir noch lange nicht am Ende der Fahnenstange. Die Psychiatrie muss weiter entstigmatisiert werden. Es muss noch niederschwelliger möglich sein, beim Auftreten von Suizidgedanken sich selbstverständlich professionelle Hilfe zu holen.

In Deutschland beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz häufig mehrere Monate.

Kaess:

Beim Thema Niederschwelligkeit geht es einerseits um das Stigma, aber auch um die einfache Verfügbarkeit von Therapieplätzen, möglichst wohnortnah und zeitnah an der Krise.

Wenn ein Jugendlicher eine suizidale Krise hat und erst in drei Monaten einen Therapieplatz bekommt, hat er in der Regel nicht mehr viel davon, denn die Symptome können sich im Jugendalter relativ schnell entwickeln und wieder verändern. Das Angebot wie auch das Problem der Stigmatisierung müssten auf gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Ebene angegangen werden.

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