Wie kamen Sie auf die Idee, Retla ins Leben zu rufen?

Judith Prem: Es gab bisher in Deutschland keine Hilfsorganisation, die sich um ältere Menschen gekümmert hat. Es gibt viele Hilfsorganisationen für Kinder in Not, für Menschen mit Behinderungen, für Menschen mit besonderen Krankheiten. Aber keine wie für ältere Menschen. Das Thema wird in unserer Gesellschaft sowieso sehr stiefmütterlich behandelt. Dabei sprechen wir inzwischen, wenn wir vom Alter sprechen, von einer Lebensphase von 20 bis 30 Jahren. Das ist eine relativ lange Lebensphase, die es auch zu gestalten gilt. Mit den steigenden Lebenserwartungen ändern sich aber auch die Bedürfnisse für den Einzelnen und für die Gesellschaft.

"Jeder hat Angst vor dem Alter, deswegen will man sich damit nicht so richtig befassen."

Sie haben also Pionierarbeit geleistet?

Prem: Retla als die erste übergeordnete Organisation in Deutschland, die sich dem Thema Alter in unserer Gesellschaft und den Seniorinnen und Senioren widmet. Zum einen sammeln wir Gelder, um damit Projekte zu unterstützen, zum anderen initiieren wir selbst Projekte, wo wir Bedarf sehen. Und außerdem wollen wir das ganze Thema auch gesellschaftspolitisch bespielen, Impulse geben. Jeder hat Angst vor dem Alter, deswegen will man sich damit nicht so richtig befassen. Wir wollen aber einfach auch durch unsere Arbeit zeigen, dass das Alter durchaus auch etwas Schönes sein kann, dass man gestalten kann. Wir wollen Lust auf das Alter machen, Mut zum Alter, auch zum Altern machen.

Eines der von Ihnen selbst initiierten Projekte sind die "Telefon-Engel", mit der Sie Senior*innen helfen wollen, die unter Einsamkeit leiden. Wie kam das zustande?

Prem: Das hängt damit zusammen, dass wir letztes Jahr erste Projekte hatten, die wir umsetzen wollten, zusammen mit einer großen Stiftung. Dann kam Corona, die Welt befand sich im Ausnahmezustand, und auch unser junges Arbeitsleben stand letztendlich über Nacht still, weil alle diese Projekte nicht mehr durchführbar waren. Ich lag morgens im Bett, meine Tochter konnte nicht mehr in die Schule gehen, mein Mann musste in Quarantäne – und ich dachte mir, es kann nicht sein, dass wir jetzt den Verein gegründet haben und Projekte für die Zielgruppe, die am stärksten von Corona betroffen ist, sind nicht mehr möglich. Beim Familienfrühstück kamen wir dann sehr schnell auf das Telefon als das einzige sichere Medium, um mit den älteren Menschen in Kontakt zu bleiben. Das war am Wochenende, am Montag habe ich das Projekt beim Sozialreferat der Landeshauptstadt München vorgeschlagen und bekam dann am Abend die Rückmeldung: Wir wollen es unbedingt machen.

"Wir bieten Menschen ab 60 mit Einsamkeitsgefühlen feste Telefonpartner an, die dann regelmäßig mit ihnen telefonieren und in Kontakt bleiben."

Telefonseelsorge gibt es ja schon länger. Was genau ist das Neue an Ihrem Projekt?

Prem: Wir wollten etwas anderes anbieten als die bestehenden Telefon-Angebote: Gespräche gegen die Einsamkeit, Alltagsgespräche führen und dabei Struktur in den Alltag bringen. Wir bieten Menschen ab 60 mit Einsamkeitsgefühlen feste Telefonpartner an, die dann regelmäßig mit ihnen telefonieren und in Kontakt bleiben.

War es nicht schwierig, das in Pandemie-Zeiten zu organisieren?

Prem: Tatsächlich haben wir erst mal Helfer geworben, weil wir natürlich nicht wollten, dass Senioren anrufen und dann haben wir niemanden, der dann mit ihnen telefonieren kann. Zum Glück haben wir relativ schnell welche gefunden, weil natürlich alle von Corona betroffen und im Homeoffice oder in Kurzarbeit waren.

Judith Prem
Judith Prem ist Geschäftsführender Vorstand und Initiatorin von Retla e.V.. Der Verein will Jung und alt verbinden, Senior*innen eine Stimme geben und ihnen Raum verschaffen in der Mitte unserer Gesellschaft.

Die gebürtige Münchnerin studierte an der LMU Psycholinguistik, Phonetik und Psychologie und sammelte erste Berufserfahrungen am Centrum für Informations- und Sprachverarbeitung sowie am Staatsinstitut für Frühpädagogik. Ab 2008 arbeitete die verheiratete Mutter dreier Töchter für zehn Jahre im Projektmanagement und in der Projektkontrolle für Sternstunden e.V.

Seit 2012 zudem in der Öffentlichkeitsarbeit für die Intern. Stiftung zur Förderung von Kultur und Zivilisation sowie seit 2018 im Projektmanagement für die Stiftung Zuhören. 2018 hat sie die Geschäftsführung der Initiative Schreiben übernommen und wurde in den Aufsichtsrat des hpkj e.V. gewählt. Sie ist Mitglied mehrerer Stiftungsnetzwerke.

Und wie haben Sie versucht, die einsamen Senior*innen anzusprechen?

Prem: Wir sind damit über Hörfunk, Fernsehen und Printmedien nach draußen gegangen, haben es einfach so breit wie möglich gestreut. Bei Retla haben wir ja von Anfang an Michaela May und Elmar Wepper als Schirmherrn dabei. Die sind zum einen natürlich medial interessant. Und umgekehrt waren sie aber auch Türöffner für unsere Zielgruppe, weil viele ältere Leute die beiden aus Film, Funk und Fernsehen kennen und Vertrauen haben.#

"Wir haben gemerkt, dass das Thema Einsamkeit über Corona hinausgeht."

Wie war die Resonanz letztlich?

Prem:  Wir haben inzwischen über 800 Patenschaften vermittelt, deutschlandweit. Wir haben auch gemerkt, dass das Thema Einsamkeit über Corona hinausgeht. Im Sommer war Michaela May in einer Talkshow und hat über das Projekt erzählt. Und der Sommer war ja eigentlich relativ gnädig zu uns allen. Trotzdem hatten wir am nächsten Tag 200 Anrufe. Und dann ist uns auch klar geworden, wie groß die Not ist, und dass das Thema Einsamkeit zwar mit Corona für kurze Zeit gesellschaftsfähig wurde und man darüber gesprochen hat, nach Corona aber immer noch da ist.

Nach welchen Kriterien stellen Sie die Telefon-Paare zusammen?

Prem: Das ist handverlesenes Matching. Das heißt, wir fragen auch immer die jeweiligen Interessen ab und versuchen, lokale Partnerschaften zusammenzustellen, damit sich die Leute, falls sich ein persönlicher Kontakt ergibt, auch treffen können. Das ist etwas, was die beiden individuell ausmachen.  Wir wissen aber, dass sich wirklich sehr viele auch inzwischen verabreden und sich gegenseitig einladen, die Lebensgeschichte aufschreiben, zur Ersatz-Oma geworden sind für die Kinder der Helfer. Da ist oft mehr als nur dieser Telefonkontakt entstanden.

"Ich fand es schwierig, wie überhaupt über ältere Menschen gesprochen wurde. So nach dem Motto: Das lohnt sich ja nicht mehr."

Sie meinten vorhin, das Thema Alter werde in unserer Gesellschaft stiefmütterlich behandelt. Warum glauben Sie ist das so?

Prem: Keiner will alt werden, jeder hat Angst vor dem Thema. Man ist natürlich auch mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert. Ich habe lange bei "Sternstunden" gearbeitet, der Kinder-Hilfsorganisation des Bayerischen Rundfunks, und habe da gesehen, wie schnell wir sehr viele Millionen jedes Jahr eingesammelt haben. Bei Organisationen, die sich um ältere Menschen gekümmert haben, haben wir nicht mal 500 Euro für ein Projekt bekommen. Vor allen Dingen fand ich es schwierig, wie überhaupt über ältere Menschen gesprochen wurde. So nach dem Motto: Das lohnt sich ja nicht mehr. Das hängt viel damit zusammen, dass man bei Kindern die Zukunft sieht und den Fortschritt. Ich finde das aber fatal, denn die älteren Menschen sind diejenigen, die es uns ermöglicht haben, dass wir hier in einem wohlgeordneten System relativ sorgenfrei leben.

Wie verbreitet ist Einsamkeit unter Senior*innen?

Prem: Es gibt Studien, die sagen: Jeder Fünfte ab 70 hat Einsamkeitsgefühle, sieht teilweise nur einmal im Monat einen anderen Menschen und hat oft überhaupt keinen Kontakt mehr. Diese ganzen Themen Demenz, Einsamkeit, Verlust der Selbstständigkeit, das Nicht-mehr- gebraucht-werden, dann eventuell versorgt werden müssen – das haben ja alle Menschen, egal, ob sie finanziell gut oder schlecht gestellt sind.

"In England gibt es ein Ministerium für Einsamkeit. In anderen Ländern wird das Thema schon mehr wahrgenommen."

Was müssen wir aus Ihrer Sicht als Gesellschaft gegen Einsamkeit tun?

Prem: Was wir sicherlich machen können, ist, das Thema überhaupt mal zur Diskussion zu bringen, darauf aufmerksam zu machen. Mit Kampagnen machen, mit Veranstaltungen und über die Projekte, die wir fördern. Damit wir zeigen zu können: Wenn wir etwas machen, dann verändert sich etwas und dann geht es den Menschen besser. Auch der Staat ist gefordert. In England zum Beispiel gibt es ein Ministerium für Einsamkeit. In anderen Ländern wird das Thema schon mehr wahrgenommen. Es passiert schon was. Aber da muss noch viel mehr passieren. Es ist sicherlich keine Sache, die über Nacht passiert, sondern eine Entwicklung. Aber diese Entwicklung mal anzustoßen, das ist unser Anreiz.