Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, warnt vor den Gefahren der Einsamkeit. Wie wissenschaftliche Studien belegten, sei sie so gefährlich wie Rauchen, Krebs, Herzinfarkt oder Depressionen. Insofern sei Einsamkeit "Lebensrisiko Nummer eins," sagt Spitzer im Gespräch mit dem Sonntagblatt zum Internationalen Tag der seelischen Gesundheit am 10. Oktober.

Was genau ist Einsamkeit?

Manfred Spitzer: Im Gegensatz zu sozialer Isolation, mit der eine objektive Tatsache (jemand ist oft allein) beschrieben wird, wird mit Einsamkeit das subjektive Erleben eines Zustandes (sich allein fühlen) bezeichnet. Wenn man diese Unterscheidung vornimmt, kann man klarer über die Dinge sprechen. So ist es beispielsweise das Ausmaß der erlebten Einsamkeit, die Stress macht, nicht das Ausmaß der sozialen Isolation.

Warum macht sie krank, kränker als Rauchen?

Spitzer: Das Erleben von Einsamkeit ist grundsätzlich unangenehm und erzeugt Stress. Der wiederum kann chronisch werden und dann schwache Immunabwehr (Infektionen, Krebs), Bluthochdruck und Diabetes (und damit Schlaganfälle und Herzinfarkte) verursachen. So wird plausibel, warum sich Einsamkeit in großen Studien als "Killer Nr. 1" - noch vor dem Rauchen, Bluthochdruck, Übergewicht oder Diabetes - herausgestellt hat.

Hat Corona die Einsamkeit verstärkt?

Spitzer: Die Angst vor Corona und unsere Maßnahmen des Lockdowns haben zu mehr sozialer Isolation geführt und damit auch zu mehr subjektiv erlebter Einsamkeit. Viele Menschen haben die Maßnahmen als "verordnete Einsamkeit" missverstanden, denn es ging ja eigentlich um körperlichen Abstand, und sonst nichts. Anstatt von "sozialer Isolation" hätte man von "distant socializing" sprechen sollen, wie ein US-amerikanischer Soziologe schon im Frühjahr 2020 vorschlug.

Inwiefern sind vor allem ältere Menschen von Einsamkeit betroffen?

Spitzer: Das sind sie nicht. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, beim Thema "Einsamkeit" vor allem an ältere Menschen zu denken. Am häufigsten wird Einsamkeit tatsächlich von jungen Frauen erlebt, wie Studien aus verschiedenen Ländern immer wieder gezeigt haben. So haben auch die Jungen Frauen unter Corona am meisten gelitten.

Können auch Kinder unter Einsamkeit leiden?

Spitzer: Ja, sogar sehr! Denn sie brauchen Kontakte, vor allem mit anderen Kindern, um sich gut zu entwickeln.

Gibt es auch Einsamkeit in der Partnerschaft?

Spitzer: Ja, und wieder wird sie dann besonders erlebt, wenn es mit der Partnerschaft eben nicht klappt. Man wird beim Zusammenleben dauernd darauf gestoßen - und das drückt jedes Mal neu auf die Stimmung.

Es heißt, Einsamkeit sei ansteckend. Wie erklärt sich das?

Spitzer: Wer eine ansteckende Krankheit hat, kommt auf die Isolierstation. Wenn also Einsamkeit und soziale Isolation dasselbe wären, dann könnte Einsamkeit nicht ansteckend sein. Aber gerade, weil beides eben nicht dasselbe ist, kann man sich einsam fühlen (und das kommt häufig vor), ohne tatsächlich sozial isoliert zu sein. Manche Menschen "baden in der Menge" und fühlen sich zugleich sehr einsam. Dadurch ist es möglich, dass sie andere Menschen mit dem Gefühl "anstecken" - man spricht auch von "emotionaler Ansteckung", englisch: "emotional contagion". Wirklich nachgewiesen wurde das erstmals in einer im Jahr 2009 erschienen großen Studie. Wer einen Freund hat, der einsam ist, wird innerhalb von Jahren mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit selbst einsam. Der Effekt ist größer, je enger die Freundschaft und je näher der Freund wohnt.

Was hilft gegen Einsamkeit - Weihnachtsmärkte, Briefe schreiben oder genügt es zu chatten?

Spitzer: Alles. Ich rate zum Telefonieren - das braucht erstens weniger Energie als Chatten und man braucht bei einem guten Freund oder nahen Verwandten sowieso kein Bild, weil man sich das selber in der Vorstellung erzeugt. Bei chronischer Einsamkeit sollte man sich professionellen Rat holen, beim Psychiater oder Psychologen, denn sie kann Symptom zum Beispiel einer Depression sein. Und diese wiederum kann viele Ursachen haben, medizinische und/oder psychologische.