1. Die Rolle des Glaubens

In einer Diskussion über die Flutopfer in Europa im Jahr 2013 hörte ich sowohl die immanente persönliche Erfahrung ("Wenn ich bete, dann glaube ich, von Gott beschützt zu werden.") als auch die transzendente gedankliche Herausforderung ("Wenn mir etwas Schlimmes passiert, kann es doch nicht bedeuten, dass ich nicht genug von Gott beschützt wurde.").

Im Lied "Adon olam", am Ende jedes Gottesdienstes, singen wir am Anfang die Behauptung, dass es Gott gab, noch bevor alles angefangen hatte, und dass er über der Zeit steht. Das ist die transzendente gedankliche Herausforderung. Aber am Ende singen wir, dass sich unser Geist, sogar unser Körper, in seiner Hand bergen. Das ist die immanente persönliche Erfahrung.

Der Glaube ist ein Gleichgewicht beider Aspekte. Wir wissen aus der physikalischen Chemie, dass jedes Gleichgewicht ein Ergebnis von ständig ablaufenden Bewegungen in entgegengesetzten Richtungen ist. Zusätzlich wird das Gleichgewicht durch äußere Impulse beeinflusst. So kann auch unser Glaube durch unseren Denkstil beeinflusst werden. Oder umgekehrt: Unser Glaube an Spirituelles mag fest an unsere Intuition geknüpft sein.

Experimente zeigen, dass wir zwei Systeme der Informationsverarbeitung haben. Das erste beruht auf unserem Bauchgefühl und führt zu intuitiven Entscheidungen, System Nummer zwei stützt sich dagegen auf unser analytisches Denken. Intuition und Analyse arbeiten Hand in Hand, überlagern sich oder spielen sich sogar gelegentlich aus. Analyse und Intuition sind im Gleichgewicht, d. h. laufen in entgegengesetzter Richtung.

In diesem Sinne ist auch unser Glaube ein Gleichgewicht. Wie in diesem Gespräch: "Ich glaube an gar nichts. Ich gehe nicht in die Synagoge, ich tue, was ich will, ich arbeite am Schabbat. Nur am Jom Kippur faste ich." "Oh, ich dachte, dass du nicht an Gott glaubst." "Nun ja, ich könnte mich ja schließlich irren."

2. Brauchen wir für den Gottesglauben eine Synagoge?

In den Sprüchen der Väter, der Kurzfassung jüdischer Ethik, finden wir viele Sprüche von Hillel. Einer davon betrifft die Fragen nach der Bedeutung einer Gemeinschaft: "Entferne dich nicht von der Gemeinde." Hillel sah ein, dass vieles besser läuft, wenn in einer sozialen Subgruppe gemeinsame Werte und Rituale geteilt werden.

Als wir im Lockdown am 20. März 2020 angefangen haben, den Schabbat in der leeren Synagoge online anzubieten, war ich überrascht, wie viele Mitglieder regelmäßig jede Woche dabei waren und ihre Verbundenheit bezeugten, wie z. B. folgende Worte von C. Bernd Sucher in der Cult-Zeitung online: "Kurz, der Erreger ist ein Anreger ganz besonderer Art: Feiertagsjuden werden jetzt in der Isolation nicht frommer, nicht gläubiger – falls man gläubig überhaupt steigern kann –, aber sie bemerken, dass es schön ist, gemeinsam zu beten und zu singen, Kilometer voneinander entfernt."

Unter vielen herausfordernden Umständen kann die Gemeinde dabei sein. Für viele sind Krankheitssituationen und Krankenhausaufenthalte mithilfe der Gemeindemitglieder angenehmer zu meistern. Sogar im Todesfall mag die Gemeinde eine wesentliche Unterstützung darstellen, wie wir zusammen, wenn auch traurigerweise erleben konnten.

Das Wort Synagoge kommt vom Griechischen, im Hebräischen sprechen wir von Bet Knesset, einem Haus der Versammlung. Die zweite Funktion der Synagoge steht hinter dem Begriff Bet Midrasch – ein Haus des Lernens. Man versammelt sich, um etwas zu erfahren, ohne sich erklären oder verteidigen zu müssen. Dann ist die Synagoge auch Bet Tefilla – ein Haus des Gebets, das als eine mentale Hygiene verstanden werden kann. Auch wenn ich die Gebete in der Synagoge meistens leite, nehme ich diese Funktion an mir wahr, in der emotionalen Beruhigung und kognitiven Zerstreuung.

"Betend leisten wir unserer Seele Gesellschaft." (Elazar Benyoetz)

3. Die Unterstützung der schriftlichen Quellen

Ich würde mich eher weigern, einige Verse aus dem Tanach/der hebräischen Bibel zu empfehlen. Die Tora (fünf Bücher Moses) ist in die Wochenabschnitte geteilt. Ich würde lieber jeder Person empfehlen, den Tora-Abschnitt durchzulesen, der am nächsten zu eigenem Geburtstag steht. Dabei kann man bei einem Wort oder Ausdruck bleiben, der gleich anspricht.

Bei einer Krankheit empfehle ich, die "düstereren" Psalme durchzulesen und bei dem Vers zu bleiben, der am besten der inneren Lage entspricht. Diesen Vers kann man auswendig lernen, sowohl auf Deutsch als auch auf Hebräisch. Zu diesem Vers kann ich auch eine Melodie nehmen, entweder eine bekannte oder ausgedachte.

Auf diesen bearbeiteten Vers kann ich immer wieder regelmäßig zurückgreifen, wenn ich ihn brauche. Er wird zu einer Art persönliches Mantra, das ich nicht von jemandem übernommen, sondern selbst entdeckt und verinnerlicht habe. Dadurch werden die alten Worte aktualisiert und erfüllen eine Funktion.

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