In meiner Kindheit waren die Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch noch ein Thema. Ein ziemlich großes sogar. Meine Großmutter ist auf dem katholischen Friedhof meiner Heimatgemeinde beerdigt. Mein Großvater auf dem evangelischen Friedhof. Meine Mutter ist evangelisch. Ihre Mutter hatte, wie es bei uns heißt, "nachgegeben".

Wenn mein Vater oder ich zu meiner Mutter sagte, irgendetwas müsse unbedingt geschehen, hörte ich sie als kleiner Junge oft antworten: "Müssen ist katholisch." Ich glaube, dieser Satz ist mittlerweile auch auf dem oberfränkischen Land ausgestorben. Wahrscheinlich nicht nur deshalb, weil die konfessionellen Rivalitäten kleiner geworden sind, es also im Zusammenleben von Evangelischen und Katholiken weniger nicklich zugeht. Ich vermute, es gibt die Redewendung, dass Müssen katholisch sei, nicht mehr, weil Religion in vielen Biografien keine identitätsprägende Rolle mehr spielt oder zu spielen scheint.

"Müssen ist katholisch"

Auf mich jedenfalls machte der Satz "Müssen ist katholisch" einen ungeheuren Eindruck. Ich vermute sogar, dass er meine evangelische Identität stärker formte als alle Religionsunterrichtsstunden und Gottesdienste zusammen. Man muss sich das einmal vorstellen! Drei Worte genügten, um mir die Quintessenz der Rechtfertigungslehre Martin Luthers und der gesamten lutherischen Reformation in die Seele zu pflanzen! Jedes Mal, wenn meine Mutter diese drei Worte aussprach, machte sie mich unwillkürlich etwas mehr zu einem evangelischen Christenmenschen! Wenn das kein Meisterstück evangelischer Erziehung und evangelischer Elementarisierung ist.

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