Die Corona-Krise trägt neben ihren gesundheitlichen Auswirkungen auch zur gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland bei. So gibt es eine recht kleine, aber laute Minderheit von Menschen, die es für eine Lüge halten, dass aktuell eine Pandemie-Lage herrscht. Impfen lehnen sie ab. Wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren sie. Andere wiederum fordern sogar eine Impfpflicht. Zwischen diesen Positionen ist kein Konsens denkbar. Unter anderem damit befasst sich die Görres-Gesellschaft bei einer digitalen Tagung vom 24. bis 26. September. Der Eichstätter Soziologieprofessor Joost van Loon (67) wird dort zum Thema "Covid-19 und die Grenzen der Toleranz" sprechen.

Herr van Loon, Solidarität und Toleranz nehmen in unserer Gesellschaft seit eineinhalb Jahren in einem Maße ab, das vor 2020 unvorstellbar schien. Erschreckt Sie das als Soziologe?

van Loon: Nein, denn es zeigt sich immer wieder, dass Gesellschaften nicht so stabil sind, wie die Menschen das glauben. Dafür gibt es viele Beispiele. Denken Sie an Jugoslawien in den 1990er Jahren. Innerhalb von nur drei Monaten waren beste Nachbarn in Bosnien so weit, dass sie sich gegenseitig umbringen wollten. Ein weiteres Beispiel ist die DDR. Nach dem Fall der Mauer war die Gesellschaft in kürzester Zeit eine andere. Wir gehen immer davon aus, dass unsere Normen und Werte tief in unserer Gesellschaft verankert sind. In Wirklichkeit braucht es nur eine kleine Krise, und alles ist zerstört. Ein weiteres Beispiel ist Syrien.

Wie sollte man mit Menschen umgehen, die nicht Ja zur Impfung sagen können? Würden Sie hier für Toleranz plädieren? Und inwieweit hängt Toleranz in diesem Fall von den Motiven ab?

van Loon: Ich möchte hier zunächst mal rein persönlich sagen, dass durch unterschiedliche Meinungen zum Lockdown, zur Maskenpflicht und zur Impfung viele Freundschaften kaputt gegangen sind - auch in meinem Umfeld. Die Frage drängt sich auf: Was sollen wir tun? Ganz wichtig ist, zu wissen, dass eine Gesellschaft nicht gut funktionieren kann, wenn man dem jeweils anderen unterstellt, er wäre unfähig oder ein Idiot. Wir müssen uns mit den Konflikten und Differenzen beschäftigen. Problematisch ist für mich als Soziologe, dass Impfgegner ihre Entscheidung nicht in Bezug auf andere rechtfertigen können. Sie können ihre Entscheidung nur in Bezug auf ihre eigenen Interessen rechtfertigen. Für mich ist es deshalb richtig, wenn Impfgegner nicht überall zugelassen werden, weil sie eine Gefahr sind für andere. Etwa für Kinder.

Sie befassen sich auch mit der Frage, wie Gesundheitsschutz kommuniziert wird. Was stellen Sie dabei in Bezug auf die Corona-Krise fest?

van Loon: Am Anfang gaben die Politiker zu, dass viele Entscheidungen zum Gesundheitsschutz unter den aktuellen Bedingungen der Unsicherheit getroffen würden. Sie gaben zu, dass sie vieles nicht wissen, doch dass man gerade, weil noch viel Wissen fehlt, bestimmte Dinge aus Fürsorge tun müsse. Im Laufe der Zeit begannen andere Kräfte zu wirken. Man muss sich doch fragen: Warum kam es in Bayern zu einer FFP2-Maskenpflicht, warum nicht in Hessen? Dann stellte sich heraus, dass Politiker von Masken profitieren. Plötzlich kam der Verdacht auf, dass wir angelogen werden. Die Menschen merken außerdem, dass gewisse Entscheidungen nur mit Blick auf Wahlen getroffen werden. Aus diesen Gründen schwindet die Toleranz gegenüber der Politik. Teilweise werden Politiker sogar als Bedrohung angesehen, weil ihre Entscheidungen, die tief in den Alltag eingreifen, nicht mehr nachvollzogen werden können. Die Corona-Krise ist auch eine Krise der Kommunikation.

Joost van Loon

Joost van Loon, geboren 1967, erwarb 1991 den Master of Arts in Soziologie an der Carleton University und 1996 den Doctor of Philosophy in Soziologie an der Lancaster University. Seit 2010 ist er Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.