Die Gesellschaft befindet sich nach Meinung des Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Uwe Kranenpohl, derzeit in einer "Boom-Phase der Empörung". Die Querdenker-Bewegung als schärfster Kritiker der Corona-Politik sei aber nicht eindeutig links oder rechts einzuordnen, erklärte der Professor an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg (EVHN) dem Sonntagsblatt.

Herr Kranenpohl, Kritiker bezeichnen das Abstimmungsverhalten des Bundestages über die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes vom 18. November als demokratischen Zentralismus und wundern sich, in welchem Tempo die Gesetzesänderung besprochen, beschlossen und letztlich unterzeichnet wurde. Gibt es an dem Vorgehen etwas zu kritisieren?

Uwe Kranenpohl: Das Gesetzgebungsverfahrens lief außergewöhnlich schnell ab, das wundert einen schon. Es gab aber schon immer Gesetze, die sehr schnell verabschiedet wurden. Beispielweise während der Finanzkrise in Griechenland. In den 1970er-Jahren gingen Anti-Terror-Gesetze ebenfalls in Rekordtempo durch. Auch wenn dieses Tempo eigentlich nicht so schnell sein sollte, gibt es im Falle des Infektionsschutzgesetzes aber keinen Hinweis darauf, dass hier etwas undemokratisch vonstattenging. Es hatte ja auch im Vorfeld eine Anhörung mit Rechtswissenschaftlern gegeben, deren kritische Hinweise mit aufgenommen wurden.

Was die Vielzahl der Möglichkeiten angeht, die der Gesetzgeber nun der Verwaltung gibt: Auch andere, sehr wichtige Verordnungen sind nie vom Bundestag verabschiedet worden. Zum Beispiel die Straßenverkehrsordnung. Und für den Infektionsschutz gilt das ja ganz besonders. Wenn die Politik "ausnahmsweise" mal Handlungsfähigkeit beweist, sollte man sich nicht über "demokratischen Zentralismus" beschweren. Zumal "demokratischer Zentralismus" nach Lenins Lesart bedeutet, dass nach der Entscheidung die kritische Diskussion vorbei ist – und davon kann man in diesem Fall nun wirklich nicht die Rede sein.

 

Mittlerweile sprechen die Öffentlich-Rechtlichen auch offiziell vom "Corona-Kabinett" – was halten Sie von dieser Bezeichnung vor dem Hintergrund der Kritik der Oppositionsparteien, das Parlament in weitreichende Entscheidungen nicht mitzunehmen?

Uwe Kranenpohl: Die Gemengelage an sich ist ja schon interessant: Das Infektionsschutzgesetz ermächtigt die Landesregierungen, Maßnahmen zu ergreifen. Die Kompetenz, Maßnahmen zu ergreifen, liegt also bei den Ländern. Das klingt zuerst vernünftig, weil Bayern und Schleswig-Holstein beispielsweise ja völlig andere Verhältnisse vor Ort haben können. Dieses "Corona-Kabinett" nun ist ein Gebilde, das es nach der Verfassung gar nicht gibt. Dass sich die Ministerpräsidenten der Länder mit der Kanzlerin als Vertreterin des Bundes koordinieren, ist dort nicht vorgesehen. Aber wie sich gezeigt hat, halten wir Bürger es ja dann nicht aus, wenn im Nachbar-Bundesland die Corona-Regeln locker sind als bei uns. Diese Para-Struktur des "Corona-Kabinetts" entstand also aus einer Notwendigkeit heraus.

Die Leute wollen ja einheitliche Regelungen. Deshalb gibt es auch so etwas, wie die Kultusministerkonferenz, da stimmen die Länder sogar ohne den Bund ihre Politik aufeinander ab. Der Bund darf aber nach dem neuen Infektionsschutzgesetz so gut wie gar keine Maßnahmen selbst ergreifen, die Hoheit liegt nahezu vollständig bei den Ländern. Ist es dann ein "Ermächtigungsgesetz"? Gut, der Begriff, dass der Bund die Länder "ermächtigt", steht da schon drin. Aber da verweise ich wieder auf die Straßenverkehrsordnung, da steht auch "Ermächtigung" drin. Man sollte den Nazi-Vergleich nicht unnütz im Munde führen.

Links gegen Rechts, Nazis gegen Gutmenschen, Covidioten gegen Schlafschafe – warum gibt es keine Mitte mehr?

Uwe Kranenpohl: Haben wir so konfrontative Phasen nicht immer wieder mal gehabt? Denken Sie an die Bundestagswahl 1972 mit einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent, nach Meinung vieler heute deshalb ein "demokratisches Hochamt". Da haben die einen gesagt: "Wer einen Friedensnobelpreisträger Willy Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum stürzen will, der ist des Teufels". Und die anderen taten so, als ob der Russe am nächsten Tag im Vorgarten steht, wenn die Sozis wieder gewählt würden.

Früher hat man sich vielleicht noch viel härter gestritten, da wären viele der heutigen Aufreger als Kindergartenkram abgetan worden. Außerdem gibt es doch auch heute Stimmen, die sich polarisierende Typen wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß wünschen würden. Es gibt da vielleicht über die Jahre Wellenbewegungen. Derzeit leben wir eben in etwas aufgeregteren Zeiten, quasi in einer Boom-Phase der Empörung.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien bei der Berichterstattung über die Corona-Maßnahmen?

Uwe Kranenpohl: Es hätte vielleicht nicht jeden Abend ein ,Brennpunkt´ nach der Tagesschau sein müssen, in dem immer wieder dieselben Wissenschaftler erzählen, dass wir eigentlich nichts wissen. Aber die Menschen wollen ja auch informiert werden und sind aber zugleich immer weniger in der Lage, auch Unsicherheiten auszuhalten. Wir müssen uns aber klar machen, dass wir doch in den meisten Lebenssituationen keine absoluten Sicherheiten haben, sei es im Job oder in der Beziehung.

Wer einen Blick auf die sogenannten "Querdenker"-Demos und deren Demonstranten wirft, stellt fest, dass es sich dabei um eine durchaus heterogene Gruppe handelt. Was halten Sie von ihr?

Uwe Kranenpohl: Die Querdenker-Bewegung lässt sich ja nicht eindeutig in ein Rechts-Links-Schema pressen. Und Impfgegner oder Menschen, die nichts von Standardmedizin halten, finden Sie auch bei den Grünen. Die Kritik an der Corona-Politik ist damit kein eindeutig links oder rechts codiertes Thema. Es gibt aber selbstverständlich radikale Akteure, die sie sich zunutze machen wollen. Deshalb demonstrieren Neonazis mit den Hippies unter der Regenbogenfahne, haben aber gewiss nicht ihr Herz für alternative Lebensformen entdeckt.

Sollte die Gruppe vom Verfassungsschutz beobachtet werden?

Uwe Kranenpohl: "Beobachten" bedeutet beim Verfassungsschutz ja, dass dieser auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzt. Darum geht es in der Diskussion aktuell ja gar nicht, sondern zunächst darum, dass die Verfassungsschutzbehörden bei den Demonstrationen mal hinschauen, um einzuschätzen, ob eine systematische Betrachtung erforderlich ist (das nennt sich dann "Prüffall"). Wenn unter den Querdenkern Menschen sind, die ohnehin schon in diesem Sinne "beobachtet" werden, dann sollte der Verfassungsschutz auch registrieren, wie sich diese Akteure im Rahmen einer breiter gefächerteren Gruppe bewegen.

Und selbstverständlich muss sich auch jeder, der seiner politischen Meinung auf einer solchen Demonstration Ausdruck gibt, kritisch fragen lassen, mit wem er oder sie sich da gemein macht. Aber grundsätzlich finde ich es gut, wenn die Leute demonstrieren gehen und ihren Unmut nicht nur am Stammtisch lassen. Woher sollen die Politiker denn sonst wissen, was sie bewegt? Dass wir derzeit eine etwas lebendigere Demonstrationskultur als die vergangenen Jahre haben, ist vielleicht auch ein Zeichen für unsere demokratische Reife als Gesellschaft. Wenn man sich an Regeln hält, warum nicht? Generell gilt für diese Debatte: Ein jeder hat das Recht, seine Meinung öffentlich zu äußern, nicht nur, wenn er oder sie Recht hat. Die Gegenmeinung muss man dann aber auch aushalten können.

 

Zur Person: Dr. phil. habil. Uwe Kranenpohl (Jahrgang 1966) ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg (EVHN).

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