Alle Jahre wieder wird der Kulturkampf gegen Weihnachten ausgerufen. So auch 2023: Eine Kita bei Hamburg will einfach den Weihnachtsbaum abschaffen. Skandal! Untergang des Abendlandes! Islamisierung! 

So oder so ähnlich berichteten jedenfalls Medien von "Bild" bis "Focus Online". Die Empörung war erwartbar groß. Zu dumm, dass sich das Ganze als komplette Falschmeldung herausstellte. Keine Spur von Cancel Culture, und es war auch nicht die angebliche Rücksicht auf muslimische oder jüdische Kinder (als ob die sich an einem Weihnachtsbaum stören würden, wo leben diese Leute eigentlich?).

Drohungen und Erpressungsversuche

Der Träger der Kita, Finkenau, stellte in einer Mitteilung auf der Webseite klar:

"Auch in diesem Jahr gibt es in allen Finkenau Einrichtungen (auch in der Kita Mobi) wieder viele weihnachtliche Bräuche wie Adventskalender, Adventskränze, Weihnachtsbäume und in einigen Kitas sind sogar Wichtel eingezogen."

Nötig war diese Erklärung, weil die fahrlässige Berichterstattung nicht nur Empörung, sondern auch rassistische Drohungen, persönliche Beleidigungen, Anschuldigungen und Erpressungsversuche gegen den Kita-Träger und seine Mitarbeitenden ausgelöst hatte. Selbst die Polizei musste einschreiten.

Haben wir keine anderen Probleme?

Nun ist das alles eigentlich schon traurig genug. Doch es geht noch weiter. Der bayerische Ministerpräsident darf in dieser Farce natürlich nicht fehlen. Markus Söder setzte sich höchstpersönlich und todesmutig für den Erhalt des Weihnachtsbaums ein. Auf X (ehemals Twitter) schrieb er: "Das ist absurd. Haben wir denn keine anderen Probleme? Zu Weihnachten gehört ein Weihnachtsbaum."

 

 

Ob wir keine andere Probleme haben? Doch, haben wir. Zum Beispiel einen Ministerpräsidenten, der fröhlich Fake News verbreitet, die über 3.000 Likes bekommen. Und der seinen Tweet mit der Falschbehauptung bis heute nicht gelöscht hat. Mutmaßlich, weil das Verbreiten solcher islamfeindlicher Verschwörungstheorien bei seiner Klientel bestens ankommt – der Wahrheitsgehalt spielt dabei keine Rolle. 

Nicht Weihnachten ist bedroht, sondern die Demokratie

Vor zwei Jahren habe ich mich noch lustig gemacht über die jährlich wiederkehrenden Räuberpistolen zum angeblichen Geheimplan, Weihnachten abzuschaffen. Doch es ist wirklich nicht mehr witzig (eigentlich war es das noch nie): Politik und Medien verbreiten sorglos rechtsradikale Verschwörungstheorien. Und das nicht etwa versehentlich, sondern mit voller Absicht, einfach, weil sie verstanden haben, wie Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert.

Das Märchen vom von finsteren Mächten bedrohten deutschen Weihnachten verbreitet sich jedes Mal wie ein Lauffeuer, das Dementi bekommt dagegen kaum jemand mit. Auf diese Weise entsteht bei vielen neutralen Beobachter*innen der fatale Eindruck, da müsse doch irgendwas dran sein. 

Mit diesem fahrlässigen Vorgehen, bei dem gezielt Emotionen geschürt und Fakten ignoriert werden, beschädigen "Bild", "Focus online" und Söder letztlich die Demokratie und ebnen der AfD weiter den Weg. Ein gefährliches Spiel, bei dem man vielleicht ein bisschen Aufmerksamkeit gewinnt, aber am Ende womöglich die Demokratie verliert. Die ist im Moment nämlich eindeutig mehr gefährdet als Weihnachten.  

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