Im Interview erklärt Possinger, die eine Professur für Frauen- und Geschlechterfragen in der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg innehat, was aus ihrer Sicht Kirche mit Blick auf Familien versäumt hat - und was sie künftig besser machen kann. Possinger wird an diesem Freitag (7. Juli) in Stuttgart ihre Studie der Synode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vorstellen.

Frau Possinger, Sie haben zwei Jahre lang zu der Frage geforscht, was Familien heutzutage von Kirche brauchen. Was sind die drei wichtigsten Erkenntnisse?

Johanna Possinger: Familien brauchen eine Kirche, die sie in ihrer Lebensrealität überhaupt erstmal wahrnimmt. Die einhellige Rückmeldung der 40 Befragten unserer Studie war, dass sie sich weder mit ihren Alltagsnöten noch in ihren jeweiligen Familienkonstellationen gesehen fühlen. Sie nehmen Kirche als weitgehend desinteressiert wahr.

Dann wünschen sich Familien von Kirche mehr Angebote in ihrem Sozialraum, die ihnen im Alltag einen Mehrwert anbieten, ihnen also etwas abnehmen und sie entlasten. Schließlich hat Kirche für Familien einen großen Charme, weil sie Begegnungen anbietet. Austausch, Gemeinschaft und Unterstützung in Netzwerken schätzen Familien sehr - aber sie möchten, dass solche Angebote weltoffen gestaltet sind, mit einer Willkommenskultur für die verschiedensten Ansichten, Religionen und Lebensmodelle.

Nehmen Familien Kirche im Konzert der Anbieter überhaupt noch wahr? Welche Andockpunkte kann Kirche nutzen?

Wir haben bei allen Befragten festgestellt, dass Menschen einen neuen Zugang zu Glaubensfragen bekommen, wenn ein Kind unterwegs ist. Elternschaft wirft viele Fragen auf: Welche Werte und Weltanschauungen wollen wir unseren Kindern mitgeben? Sollen wir überhaupt etwas vorgeben? Welche Rolle spielt dabei die Konfession?

Diese Phase im Leben junger Familien birgt total viel Potenzial für Kirche! Die Verunsicherung nach der Geburt des ersten Kindes ist so groß, die Fragen sind so zahlreich. Familien wären in dieser Phase sehr offen und auch dankbar für ortsnahe Angebote von Kirche. Das könnten Familiencafés oder Eltern-Kind-Gruppen oder Frühstücktreffs sein - ohne Anmeldung, einfach zum spontanen Vorbeikommen. Wir hören von Menschen in Kirchengemeinden, dass sie selbst über solche Angebote den Einstieg ins kirchliche Ehrenamt gefunden haben.

Warum passiert in dem Bereich dann nicht viel mehr?

Wir haben für unsere Studie auch 40 Gemeinden befragt, die bereits eine erfolgreiche Familienarbeit machen. Von den Hauptamtlichen hören wir, dass es oft ein langer Kampf ist, zum Beispiel Eltern-Kind-Gruppen als wichtigen Teil kirchlicher Arbeit in der Gemeinde zu etablieren. Da debattiert dann der Kirchenvorstand darüber, dass solche Gruppen nur Dreck und Lärm machen und dabei nicht mal in der Bibel lesen.

"Das hat doch nichts mit Kirche zu tun!", ist eine verbreitete Ansicht, die exemplarisch für viele Gemeinden gilt.

Aber Bibelkreise sind nicht das, was die meisten Familien wollen. Viele sind oft durchaus offen für spirituelle Impulse - aber zugleich sehr sensibel gegenüber Missionierungsversuchen. Unsere Studie zeigt, dass Familien von Kirche beides brauchen: Gemeindearbeit mit Gottesdiensten und ähnlichem - und Gemeinwesenarbeit, die den Austausch und die Begegnung der Familien fördert, mit lebensdienlichen Angeboten, die im Alltag entlasten und einen echten Mehrwert schaffen. Und da ist noch viel Bewusstseinsarbeit nötig.

Woher kommt der nötige Perspektivwechsel in den Gemeinden, in den Landeskirchen?

In den Gemeinden muss es eine Person in die Hand nehmen. Es braucht eine neue Prioritätensetzung und eine verbindliche Haltung dazu, dass Familien ein Schwerpunkt in der Arbeit werden sollen. Man muss prüfen, welche Angebote schon da sind, was noch fehlt, was gebraucht wird. Auf der Ebene der Landeskirchen braucht es ein Bewusstsein dafür, dass es Menschen gibt, die ein Angebot suchen, es aber nicht finden. Es braucht das Bewusstsein, dass man an dieser Stelle investieren muss, wenn Kirche in 20 oder 30 Jahren noch relevant sein soll.

Und es braucht einen politischen Willen, denn das kostet Geld. Und man muss natürlich Hauptamtliche für dieses Handlungsfeld schulen, familiensoziologisches Wissen in die Ausbildung integrieren. Die Jugendarbeit ist in der Kirche an vielen Stellen gut verankert. Aber von Familien spricht kaum jemand. Außerdem könnte man Gemeinden mit guter Familienarbeit vernetzen - das sind bislang meistens Einzelkämpfer. Man könnte Tagungen, runde Tische, Gütesiegel erfinden, um Anreize für diese Arbeit zu schaffen.

Manche Gemeinden haben vielleicht Scheu, einen Eltern-Kind-Kurs anzubieten, den es genauso auch bei kommunalen Bildungsträgern gibt - weil sie es nicht für ihre Kernkompetenz halten.

Für Familien geht es darum, passende Angebote in Wohnortnähe zu haben. Im ländlichen Bereich haben die Kirchen manchmal eine bessere Infrastruktur, als andere Anbieter. Kirchengemeinden sollten solche "weltlichen" Angebote einfach mal ausprobieren. Denn wenn man darauf wartet, die Kinder im Religionsunterricht zu gewinnen, ist es vielleicht schon zu spät.

Man kann Familien nur durch Lebensbegleitung von Anfang an zeigen, dass Kirche für sie da ist. Das geht schon vor der Familiengründung los, zum Beispiel mit Angeboten für Paare, um sich gemeinsam über Lebensfragen klar zu werden. Spirituelle Fragen treiben Eltern um. In einer Eltern-Kind-Gruppe der Gemeinde kann man darüber doch sogar besser ins Gespräch kommen, als bei einem kommunalen Anbieter.

Das kann ein echter Mehrwert von evangelischer Familienarbeit sein. Ich kann Gemeinden nur ermutigen, mit Familien ins Gespräch zu kommen, nachzufragen, was sie brauchen, Angebote auszuprobieren und dann zu sehen, ob sie ankommen.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden