Mein kleiner Sohn ist krank. Und müde. Und mit nichts so richtig zufrieden. Ich wäre sehr zufrieden damit, ein bisschen die Augen zuzumachen. Das findet er wiederum nicht so aufregend. Ich soll das Pumuckl-Lied anmachen. Okay, ich versuch es gleich mal mit dem Hörspiel. Er ist fast noch zu klein dafür, aber wer weiß, vielleicht klappt es ja. Ich liebe die Pumuckl-Hörspiele, das sanfte Bayerisch, den Übermut, den feinen Humor. Für mich tanzt der Holzstaub in der Luft, wenn ich in der Münchener Schreinerei sitze und zuhöre.
Die erste Pumuckl-Folge überhaupt beginnt mit sprudelndem Kobolds-Gelächter. Und gleich darauf bleibt Pumuckl das erste Mal am Leimtopf hängen. Ein Drama sondergleichen! "So ein Unsinn!!" kreischt er, "Was soll das?! Du und dein dummer Leim!" Er hört gar nicht mehr auf zu schreien und zu meckern und ich liebe es, wie er einfach kein Blatt vor den Mund nimmt. Irgendwann schnieft er erschöpft und sagt resigniert: "Es ist so anstrengend, sichtbar zu sein!" Oh ja, Pumuckl, das ist es. Es ist anstrengend sichtbar zu sein.
Mit aufgeklapptem Visier bleibt es offen
Gesehen zu werden, nicht mehr untertauchen zu können zwischen Sägespänen und Schrauben. "Denn der, der mich sieht, wenn ich sichtbar bin, der sieht mich ab jetzt immer! Das ist ein Koboldsgesetz!" Ein Koboldsgesetz und ein Menschengesetz. Wenn wir einmal das Visier aufklappen, bleibt es offen. Wenn wir zulassen, dass die Fassade bröckelt, fällt Stück um Stück die mühsam errichtete Normalität in sich zusammen - für uns und für die anderen. Wieder unsichtbar werden, wieder untertauchen, wieder unbemerkt sein, klappt dann zeitweise, aber nicht mehr dauerhaft.
Als ich an einer Depression erkrankt bin, habe ich erstmal überhaupt nicht geredet. Nur mit den nötigsten Menschen und auch mit denen wirklich wenig. Die ersten mails mit Absagen beruflicher Termine und Projekte musste mein Mann für mich schreiben. Ich war nicht in der Lage, Menschen womöglich damit zu enttäuschen, indem ich sage "Ich mache das nicht." Nach ein paar Wochen hat sich das nicht mehr richtig angefühlt, ich wollte zwar immer noch nicht mit anderen Menschen über meine Angst, meinen Schmerz oder meine innere Unruhe sprechen, aber ich wollte ehrlich sagen können, warum ich nicht zur Arbeit gehe, warum ich nicht zu der Geburtstagsfeier kommen kann und so weiter. Ich legte mir ein Sätzlein zurecht und schrieb jedem so ziemlich das gleiche, auch im beruflichen Kontext.
"Ausgelöst durch Überlastung bin ich mit einer Depression bis auf Weiteres krankgeschrieben."
Mehr nicht. Keine Details, keine Gründe, keine Prognosen. Die Reaktionen waren unglaublich. Bekannte schrieben mir, sie hätten das auch schon durchgemacht, ich dürfe mich jederzeit melden. Kolleginnen aus anderen Arbeitsbereichen antworteten, sie würden das so gut kennen, ich solle bloß nicht zu früh wieder arbeiten. Es war, als würde ich eine Decke anheben und zum ersten Mal sehen, was unter der sorgsam bedeckten Normalität liegt. Depressionen, Panikattacken, Klinikaufenthalte. Und sehr, sehr oft eine eindeutige Botschaft: Danke, dass Du das so offen sagst.
Natürlich hab ich den Atem angehalten, als ich meinen Satz das erste Mal geschrieben habe. Es war wie ein Sprung ins offene Gewässer - dabei war ich mit meiner Krankmeldung eigentlich schon gesprungen. Vor mir selbst sichtbar zu werden, war der erste Schritt ins Freie.
Tun, was uns gesagt wird
Unser Bedürfnis nach einem geordneten Leben gründet sich nicht nur darin, dass es sich gut anfühlt, alle Steuerunterlagen rechtzeitig einzureichen oder immer genug Backpulver zuhause zu haben. Ein geordnetes Leben schützt uns auch davor, uns vor anderen verletzlich zeigen zu müssen. Alle wünschen sich offene Worte und ehrliche Antworten - aber irgendwie fängt niemand damit an. Viel zu früh haben wir gelernt, dass das Leben doch eigentlich ganz einfach ist. Und vor allem: Dass alle wissen, wie es geht. Nein, wie es richtig geht. Nämlich, indem wir uns anstrengen. Tun, was uns gesagt wird. Den Schulranzen schon abends einräumen, damit wir nichts vergessen. Wenn wir dann doch etwas vergessen, rollen die Lehrer*innen und Eltern mit den Augen.
Ich fände es so viel ehrlicher, wenn sie stattdessen sagen würden: "Ach blöd. Aber weißt Du, ich hab mir heut morgen extra einen Kaffee zum Mitnehmen gemacht und dann hab ich ihn zuhause stehen lassen. Das ist ganz normal! Wir alle versuchen, gut durchzukommen und manchmal klappt es und manchmal nicht."
Manchmal denken wir an Kleingeld für den Parkautomaten, manchmal nicht. Manchmal denken wir rechtzeitig daran, das Abo zu kündigen, manchmal nicht. Es gibt hunderte Möglichkeiten am Tag, sich dem Leben unterlegen zu fühlen. Aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen, zu denken, den anderen ginge es anders. Alle versuchen, ihr Leben zusammenzuhalten. Ihr Liebesleben, ihre tausend Passwörter, ihre Mahngebühren. Man muss nicht erst Vorstandsvorsitzende werden, um das Recht zu haben, überfordert zu sein. Und man muss nicht erst an einer Depression erkranken, um ehrlich zu sagen, wie es einem geht. Um das innere Chaos sichtbar werden zu lassen.
Als wäre Glaube eine Garantie
Ab August werde ich als Klinikseelsorgerin in einem Hospiz arbeiten, in einer Mutter-Kind-Klinik und in Kliniken für Menschen, die psychosomatisch erkrankt sind. Eine Geistliche, eine Pfarrerin, eine, die Gott vertraut. Eine andere Rolle als letzten Winter noch. In einer meiner ersten Gruppentherapie-Sitzungen als Patientin entgegnete mir anderer Patient beinahe vorwurfsvoll:
"Als Pfarrerin solltest Du doch gar nicht hier sein!"
Und ich hab seinen Schmerz und seine Wut so gut verstanden. Weil sie doch genau dafür stehen: Wie kann das sein, dass man an Gott glaubt und an das Evangelium und darüber spricht und ihm vertraut und dann - trotzdem nicht alles hinbekommt. Als wäre der Glaube eine Garantie und würde er sich nicht bezahlt machen, wäre er eben unnütz. So ist es nicht. Mein Glaube hat meine Krankheit, die Selbstzweifel, die Erschöpfung nicht besser gemacht. Er hat mich nicht geheilt. Gott hat mir nicht laut widersprochen, wenn ich das Gefühl hatte, nichts mehr anfangen und bewegen zu können. Das wäre schön gewesen, aber so war es nicht.
Aber Gott war auch kein Widerspruch zu meiner Erschöpfung. Ich hatte nie das Gefühl, mit meinem Glauben gescheitert zu sein. Vielleicht wollte ich auch deshalb öffentlich darüber sprechen. Sichtbar sein. Sichtbar machen, dass mein Vertrauen in Gott kein perfektes Leben als Versicherung braucht. Und dass Gottes Nähe umgekehrt nicht von irgendeiner Art von "richtigem Leben" abhängt. Die Suche nach dem richtigen Leben ist anstrengend, sehr. Manchmal überfordernd. Aber niemals ein Kriterium der Nähe zu Gottes Liebe.
Kommentare
In dem Artikel vermisse ich…
In dem Artikel vermisse ich deutliche Bibelaussagen:
Jesus Christus spricht in Matthäus 11, 28 "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich will euch erquicken".
Und Psalm 146, 8 "Der HERR richtet auf, die niedergeschlagen sind".
Jesus Christus kann Wunder vollbringen, aber auch durch Ärzte, andere Therapeuten und Medikamente handeln.