Zu wenig Fachkräfte, zu wenig Wohnungen: Das sind die Hauptsorgen des Diakonischen Werks Rosenheim, das in diesem Jahr 50. Vereinsgründungsfest feiert. Vorstandsvorsitzender Andreas Dexheimer fordert ehrliche Diskussionen über Qualitätsstandards und Nachverdichtung - und bringt die Diakonie als "evangelisches Gesicht" ins Spiel, wo Kirche aus Personalgründen nicht mehr vor Ort sein kann.
Herr Dexheimer, was ist im 50. Jahr der Diakonie Rosenheim das drängendste Problem?
Andreas Dexheimer: Es sind zwei. Der Fachkräftemangel ist mittlerweile dramatisch. Wir haben im Sozialbereich über viele Jahre hinweg höhere Standards aufgebaut - das war und ist fachlich sehr sinnvoll und richtig! Aber wir finden jetzt die Leute nicht mehr, die die nötige Qualifikation und die persönliche Eignung für den Beruf mitbringen. Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, hilft da kaum weiter. Stattdessen müssen wir die Berufe attraktiver machen, ihr Ansehen und das Einkommen heben, Belastungen abbauen - und viel mehr Menschen ausbilden.
Aber das versuchen ja auch andere Berufsgruppen, die unter dem Arbeitskräftemangel leiden …
Richtig, ob Bilanzbuchhaltung, Soziale Arbeit oder Handwerk: Wir buhlen alle um Fachkräfte, aber der Arbeitsmarkt in Deutschland ist limitiert. Es sind nicht genug Leute da. Auf lange Sicht müssen wir die Debatte führen: Finden wir noch Menschen mit der geforderten Qualifikation, die die Arbeit machen? Oder andersrum: Entweder betreuen Fachkräfte weniger Menschen in der gewünschten Qualität - oder wir betreuen möglichst alle, aber nicht in idealer Qualität.
Das klingt drastisch. Was wäre Ihre Wahl?
Als christlicher Sozialarbeiter plädiere ich sehr für die zweite Variante. Nehmen wir die Kinderbetreuung: Wenn eine Familie keinen Platz in der Kita bekommt, ist das für manche existenzbedrohend. Gerade in den Metropolregionen können es sich die Menschen nicht leisten, auf ein Gehalt zu verzichten, um die Kinder daheim zu behalten. Wir dürfen niemanden im Regen stehen lassen. Wir müssen unsere Ressourcen allen zur Verfügung stellen, sonst wird es ungerecht.
Aber die Ansprüche an Betreuung sind heutzutage hoch, lässt sich das so einfach herunterschrauben?
Wir wissen, dass eine hohe Qualität das Beste wäre. Aber wir müssen uns auch ehrlich machen: Bei diesem Fachkräftemangel können wir das Niveau nicht halten, wenn wir weiterhin allen einen Betreuungsplatz bieten wollen. Und lieber biete ich eine akzeptable Betreuung für alle, als eine ideale für wenige.
Sie sprachen von einer zweiten Herausforderung.
Das zweite zentrale Problem ist die Wohnraumknappheit in metropolen Regionen. Selbst der gut situierte Mittelstand, der auch bereit wäre, höhere Mieten zu zahlen, findet keinen adäquaten Wohnraum mehr. Das hat Einfluss auf so etwas Privates wie Familienplanung. Viele sagen: "Ein Kind geht in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gerade noch, aber zwei nicht." Außerdem sehen wir die Zunahme von faktischer Armut: Wenn jemand mit 2200 Euro netto ordentlich verdient, aber 1500 Euro für Miete ausgeben muss, dann bleiben ihm gerade noch 700 Euro zum Leben. Das ist faktische Armut, taucht aber in keiner Statistik auf.
Es wird schon viel gebaut, aber es reicht nicht. Wie bekommt man das Problem in den Griff?
Wohnraum schaffen ist eine staatliche Aufgabe. Die Politik von Kommunen, Ländern und dem Bund kann darauf direkt Einfluss nehmen, das ist beim Fachkräftemangel viel schwieriger. Wir brauchen signifikant mehr sozialen Wohnungsbau. Aber auch das ist nicht kostenfrei: Die logischen Folgen sind Nachverdichtung, mehr Verkehr, hohe Investitionen - davor schrecken dann viele zurück. Unsere Aufgabe als Diakonie ist es, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und zu sagen: Es muss mehr passieren, wir brauchen viel mehr bezahlbaren Wohnraum.
Gesellschaft, Staat und Kirche haben verschiedene Erwartungen an Diakonie. Können Sie die alle erfüllen?
Wir können wahnsinnig viel, aber dafür brauchen wir Unterstützung und die nötigen Ressourcen. Der Fachkräftemangel wird bald auch die Kirchen treffen: Es wird weniger Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionspädagogen und -pädagoginnen geben. Wenn die evangelische Kirche trotzdem vor Ort präsent bleiben will, geht das nur mit dem Netzwerk der Diakonie. Die Diakonischen Werke von München, Rosenheim und Traunstein haben zusammen rund 7700 Mitarbeitende in ganz Oberbayern. Sie leben das, was Diakonie und Kirche ausmacht: Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Diese Präsenz vor Ort, dieses evangelische Gesicht der Diakonie wird bislang noch zu wenig genutzt. Die Mittel für die Diakonie im gleichen Maße zu kürzen wie für andere kirchliche Bereiche, ist dabei die falsche Strategie.
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